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Full text of "Historische Tatsachen Nr. 104 Siegfried Egel Dokumentation Zum Russlandfeldzug ( 2008, 44 S., Bild)( 1)"

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Utftortftlje QTatfacIjen Ä 55 


Dipl. Pol. TJdo Walendy 


Diffamierte Medizin im Dritten Reich 



Vorstellung der Konzentratverpflegung der Waffen-SS. 

Mitte: Heinrich Himmler, links von Ihm vorn: SS-ObergruppenNlhrer Oswald Pohl, links von Ihm Prof. E.G. Schenck, 1943 ln Hochwald bei 

Rastenburg/Ostpr. 


Die Schwierigkeiten bei der Versorgung eingekesselter Truppen an der Ostfront schreckten die militärische Führung nach der 
mißlungenen Versorgung Stalingrads aus der Luft auf. Das Oberkommando der Wehrmacht erteilte dem Verpflegungsamt den 
Auftrag, eine "Motverpflegung des Heeres" zu entwickeln. Sie befriedigte nur zum Teil. Deshalb bekam ich als Emährungsinspek- 
teur im März 1943 von Himmler den Befehl, bis zum Oktober 1943 eine eigene, variationsreichere Verpflegung nicht nur zu 
entwickeln, sondern auch in zunächst ausreichender Menge (2 Millionen Portionen) produzieren zu lassen und für den Bedarfsfall 
einzulagern. Das Soll wurde mit zusätzlicher Leistungssteigerung zahlreicher Lebensmittelfirmen tatsächlich erreicht. Die Be¬ 
zeichnung "Konzentratverpflegung" wurde gewählt, weil die neuartigen Verpflegungsmittel in geringstmöglicher Masse den 
höchstmöglichen Mährwert enthalten und (zwecks Abwurf aus der Luft) transportgünstig sein sollte. Die Tagesration (ca 10 ver¬ 
schiedene Gerichte u.a.) wog 500 - 600 g, die Verpackung zusätzlich 50 g.*) 

•) E.G. Schenck, “Zur Frage der Sonder- und Konzentrat-Verpflegung der Waffen-SS". 1943, Nur für den Dienstgebrauch. 












Historische Tatsachen Nr. 55 
Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck 


-- Wissenschaftliches Sammelwerk — 


Diffamierte Medizin im Dritten Reich 


Die in diesem Heft berichteten Tatsachen sind aus 
verschiedenen, auch gegensätzlichen, in- und ausländi¬ 
schen Veröffentlichungen, aus der Anhörung von Zeit¬ 
zeugen und Sachverständigen und nach wissenschaftli¬ 
cher, kritischer Prüfung gewonnen worden. Ihre Rich¬ 
tigkeit ist nachprüfbar. Vielfache Fußnoten weisen dem 
Leser und Forscher die Richtung. 

Soweit aus Tatsachen Folgerungen zu weiteren 
Tatsachen gezogen werden, ergeben sich diese aus der 
Logik, aus der Naturwissenschaft, aus der geschichtli¬ 
chen und Lebenserfahrung. Auch sie sind somit nach¬ 
vollziehbar. Wiedergegebene Darstellungen Dritter sind 
gleichermaßen geprüft, wobei Zustimmung oder Ab¬ 
lehnung beigefügt ist. 

Meinungsäußerungen fließen allein aus dem Kern 
der Tatsachen, nicht aus ferneren, insbesondere politi¬ 
schen Absichten. 

Über die Selbstverpflichtung des Verfassers und 
Verlegers hinaus ist dieses Heft juristisch dahingehend 
überprüft worden, daß weder Inhalt noch Aufmachung 
irgendwelche BRD-Strafgesetze verletzen oder soziale¬ 
thische Verwirrung unter Jugendlichen auslösen. 



"Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleini¬ 
gen Schuld Hitlers am Ausbruch des Krieges ist viel¬ 
mehr eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik. 
Man braucht nur an die Erklärungen Adenauers gele¬ 
gentlich seines Besuches in Moskau 1955 und seine an 
Polen gerichtete offizielle Kundgebung im vergangenen 
Jahr zu denken!" 

Prof. Dr. Theodor Eschenburg, 

'Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik", 
München 1967, Bd. I, S. 152. 


Es ist gewiß berechtigt, zu erklären, daß vorstehen¬ 
des Zitat ausgeweitet beginnen müßte: 

"Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleini¬ 
gen Verwerflichkeit des Nationalsozialismus bzw. Drit¬ 
ten Reiches in allen seinen einzelnen Lebensbereichen ist 
vielmehr die Grundlage der Politik der Bundesrepublik." 

Denn jeder Etablierte weiß offensichtlich, daß er nur 
dann dazugehören darf, wenn auch er in seinem Metier 
zur Dreckschleuder greift oder es zustimmend ("schwei¬ 
gend" wäre zu wenig) geschehen läßt, wenn andere es 
tun. 

Udo Walendy 

^ Berichtigung: ^ 

In HT Nr. 52, (1. Aufl.) S. 30 linke Spalte 16. J 
■ Zeile ist uns das Wort "Sterilisierung der Juden ! 
^.. auf mysteriöse Weise abhanden gekommen^ 


Copyright 
by 

Verlag für Volkstum und Zeitgeschichtsforschung 
D 4973 Vlotho Postfach 1643 
1992 


ISSN 0176 - 4144 

Konten des Verlages: Postscheck Essen 116162 -433 (BLZ 360 100 43) 

Kreissparkasse Herford 250 00 2532 (BLZ 494 501 20) Druck: Kölle Druck, D 4994 Pr. Oldendorf 


2 


Historische Tatsachen Nr. 56 





Medizinisch-historische Untersuchungen über 
"Medizin im Dritten Reich" 


Bereits vor längerer Zeit übermittelte ich fairerweise 
der Bundesärztekammer und dem Deutschen Ärzte¬ 
blatt im wesentlichen die jetzt hier veröffentlichten 
Ausarbeitungen, weil ich erfahren hatte, daß an eine 
Überarbeitung des quasi offiziellen Buches "Medizin im 
Dritten Reich" (Hrsg. Johanna Bleker und Norbert 
Jachertz, Deutscher Ärzte-Verlag Köln 1989 gedacht 
werde. Die verantwortlichen Kollegen der ärztlichen 
Standesführung hatten sich im Vertrauen auf die Serio¬ 
sität der Autoren für die genannte und analoge Publika¬ 
tionen engagiert eingesetzt. 

Aber ich, der ich während des Krieges in verschiede¬ 
nen zivilen und militärärztlichen Zentralstellen unter 
Beibehaltung auch der friedensärztlichen Pflichten tä¬ 
tig zu sein hatte, bekam Zweifel an der Korrektheit, ja an 
der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit einzelner Artikel. 
Ich glaubte, einen Diskussionsbeitrag leisten zu müssen 
und hoffte, daß man sich mit einer Gegendarstellung 


auseinandersetzen, ihr ggfs, folgen oder sie aber mit 
guten Gründen widerlegen werde. Doch ich täuschte 
mich. Denn die Reaktionen waren abweisend, und in 
einer hieß es: 

"Ich fiirchte auch, daß das Buch von seiner Intention her für 
eine Aufarbeitung in dem von Ihnen angeregten Sinne nicht 
geeignet ist. Ich will nicht ausschließen, daß das Thema »NS- 
Vergangenheit« demnächst auch in Ihrem Sinne einmal wissen¬ 
schaftlich aufgearbeitet wird. Vielleicht ist die Zeit dazu aber 
noch nicht reif. ... Das wäre im Grunde genommen auch die 
Sache eines kritischen Historikers. Für einen solchen werde ich 
gern Ihre und andere Unterlagen aufbewahren." 

Für Wahrheitsfindung, lernte ich, sei es nie zu früh, 
doch leicht zu spät und die Zeit immer reif. 

Fazit: 

"Was konveniert, wird publiziert, 
was irritiert, flugs archiviert." 


Medikament aus Lebern von Menschen? 

AufS. 64 des Aufsatzes, in welchem er sich mit der Person des Anatomen Prof. H. Voß von der Reichsuniversi¬ 
tät Posen im Warthegau befaßt, unterstellt G. Aly, es sei ein Medikament aus Menschenlebern hergestellt worden.” 
Der betreffende Passus lautet: 


Da Prifibtul 
Id (Rtitfcdgrfunbtjdl&imfe 
F 373S/14.B.4J e. 


7/ 

I I B«tlln no »r. <J<n 


8«hr gawhrtwr Herr lollwg J 



Belohegeeundheltaact bat eich Uber ala lajlxlerbarea 
Lebcraxtrakt tu Buflera, daa eua Labarn bargaetallt «lrd, dla aua den 
Oatcablatcn atoaaon. Hach den clr vorliegenden Onterauchuncen lalgt daa 
T «rtrllgllchkelt. Aach an Fernlxloaa-Exankea ooll aa 
alch bawührt naben. 

♦ üü ““»kalcht auf dla angaapaaate Tereorgungalage alt LeberprOpara- 
ten wurdei loh aa bagrüJen, wenn von kllnlachar Seite daa Extrakt ln Reh- 
aea de* LBgllohon erprobt würde. Ich wUre daher für eine kuria üuflarung 

*“»• *•»■*?*— 


extrakta eugahan. 


■ etwa 100 Aopullan zu 2,2 < 
Hall HitlerI 
ln Vertretung 

/- - 




Dieses Dokument zeigt, wie offen das Reichsgesundheitsamt die Dekane der medizinischen 
Fakultäten zur Mitarbeit an Verbrechen einlud. Der Extrakt, um den es hier geht, ist hergestellt 
aus Lebern, »die aus den Ostgebieten stammen« — eine deutliche Umschreibung dafür, daß das 
Medikament aus den Lebern von Menschen hergestellt worden ist. 

»Gesehen den 15.X.43 Vos«, lautet der handschriftliche Vermerk unten links." 

und Sozialpolitik", Berlin 1989, Bd. 4, dort: G. Aly, "Biedermann und 


Sachverhalt 

Wie verhielt es sich mit 
"Lebern aus den Ostgebie¬ 
ten"? Hitlers Leibarzt Prof. 
Dr. Theo Morell hatte sich 
mit tatkräftiger Unterstüt¬ 
zung seines Patienten für 
das von ihm errichtete 
Pharmazie-Imperium ein 
wichtiges Monopol er¬ 
kämpft. Beim Reichskom¬ 
missar für die Ukraine und 
Gauleiter von Ostpreußen 
Erich Koch und den Mili¬ 
tärbefehlshabern der be¬ 
setzten südrussischen Ge¬ 
biete hatte er erwirkt, daß 
ihm sämtliche in zivilen und 
militärischen Schlachthö¬ 
fen anfallenden Lebern und 
sonstige Drüsen innerer 
Sekretion zur Verfügung 
gestellt wurden. Sie wur¬ 
den in gefrorenem Zustand 
an seine Firma Ukraino- 
Pharma in Winniza abge¬ 
liefert und gelangten von 
dort in Kühlwaggons zur 
Verarbeitung in Morells 


3 




Fabriken in Olmütz (Hamma-Werk) oder Kosolup bei 
Pilsen. Der hier hergestellte Leberextrakt-Hamma nach 
Prof. Morell wurde in Ampullen zu 2,2 ml abgefüllt. Für 
260.000 solcher Ampullen benötigte man 5 Tonnen Leber. 
Das neue Medikament, das Morell gleichwohl schon 
zuvor Hitler und zahlreichen anderen Prominenten 
injizierte, war seitens des Reichsministeriums des Inne¬ 
ren nicht zugelassen und konnte deshalb im Deutschen 
Reich nicht vertrieben und ohne vorhergehende phar¬ 
makologische und klinische Prüfung nicht angewendet 
werden. Auf eine solche drängte Morell, wiederum mit 
Unterstützung Hitlers, stark, hatte er doch z.B. in 
Dezember 1943 einen Lagerbestand von 416.000 Stück 
Ampullen, die nicht in den Handel kommen durften. 

Unter dem Druck der Reichsführung nahm der Prä¬ 
sident des Reichsgesundheitsamtes in Berlin, Prof. Dr. 


H. Reiter, die Prüfungsangelegenheit persönlich in die 
Hand, bestätigte Morell am 25.10.1943 den Erhalt von 
1000 Leberampullen und schrieb, er habe sie ohne 
Nennung des Herstellers, jedoch mit Angabe »Leber aus 
Ostgebieten« zur Prüfung an 9 Universitätskliniken 
weitergegeben. Deren Beurteilung sei abzuwarten. 

Empfängerin eines dieser Briefe war augenschein¬ 
lich die Medizinische Fakultät der Reichsuniversität 
Posen, deren Dekan Voß ihn, da er als Anatom für 
Medikamentenprüfungen nicht zuständig war, ad acta 
legte.® 

Mithin steht fest, daß es sich entgegen Alys Unter¬ 
stellung bei dem Medikament nicht um einen Extrakt 
aus Menschen-, sondern um einen aus Rinder- und 
Schweinelebern handelte. 


Leibarzt Prof. Theo Morell -- Hauptberater Hitlers 
in Fragen der Euthanasie und 
der Vernichtung lebensunwerten Lebens? 


K.H. Roth und G. Aly legten in dem Aufsatz "Das 
Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbaren Kranken" 2 ' 
ausführlich dar, Theo Morell, Hitlers Leibarzt, habe, 
höchstwahrscheinlich auf dessen Veranlassung, Litera¬ 
tur über Vernichtung lebensunwerten Lebens und 
Euthanasie in großem Umfange gesammelt und sorgfäl¬ 
tig exzerpiert. Er habe sie kritisch beurteilt und als 
Grundlage für einen Gesetzentwurf "Vernichtung lebens¬ 
unwerten Lebens" benutzt. Diesen habe Hitler studiert 
und für seinen, auf den 1.9.1939 zurückdatierten Tö¬ 
tungserlaß verwendet. Morells Entwurf wird dem o.a. 
Aufsatz als Dokument 2 beigelegt. 

In einer Arbeit "Medizin gegen Unbrauchbare" 3 kommt 
G. Aly 1985 auf dieses Thema in gleichem Sinne zurück. 

Sachlage: 

Verfasser beschäftigt sich seit Jahren mit den Tätig¬ 
keiten des Leibarztes Morell und deshalb selbstver¬ 
ständlich sehr genau-mit allen von ihm hinterlassenen 
und vom National Archiv in Washington der wissen¬ 
schaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemachten Schrift¬ 
sachen. 4 ’ Er konnte bislang nicht den Eindruck gewin¬ 
nen, daß Morell außer mit Patienten und dem Aufbau 
seines Pharma-Imperiums sich von sich aus oder auf 
Verlangen Hitlers mit anderen Problemen, insbesonde¬ 
re mit solchen der Lebensvernichtung und der Euthana¬ 

2) K.H. Roth (Hrsg.), "Erfassung zur Vernichtung", Berlin 1984, S. 101-170 

3) G. Aly (Red.), "Aussonderung und Tod - Die klinische Hinrichtung der 
Unbrauchbaren", Berlin 1985, S. 14 u. ff + S 71 Anm. 

4) National Archiv, Washington, Mikrofilm T 253, R 34-45 und 62. 


sie, befaßt hatte. 

Verfasser fühlt sich deshalb nach Kenntnisnahme 
der Arbeiten von Roth und Aly zu einer nochmaligen 
Überprüfung des in seinem Besitz befindlichen Archiv¬ 
materials verpflichtet. Die Morell-Papers bestehen in 
den o.a. 13 Rollen aus insgesamt fast 17.000 Filmauf¬ 
nahmen, welche in 81 voneinander getrennten Foldern 
(Heftern) unterteilt worden sind. Die Unterteilung er¬ 
folgte indes keineswegs sachgemäß, sondern unterlag 
weitgehend dem Zufallsprinzip, so daß sich Privatbriefe, 
Hitler-Notizen, wissenschaftliche Darlegungen und ge¬ 
schäftliche, finanzielle Probleme in bunter Weise mit¬ 
einander vermischen.® 

Roths und Alys Ausführungen machen aus diesem 
Morell gleichsam einen Universalsten von nicht nur 
medizinischer, sondern allgemein kriminalhistorischer 
Bedeutung. 

Dies dürfte eine subtile, möglicherweise allzu subtile 
Analyse des dem Verfasser und auch den genannten 
Wissenschaftlern verfügbaren Archivmaterials recht- 
fertigen, zumal ihr internationale Bedeutung zukommt. 

Die Durchmusterung der genannten Filmrollen er¬ 
gibt, daß mit Ausnahme von R 44 auf keiner einzigen 
Ausführungen über Euthanasie oder Menschenvernich¬ 
tung enthalten sind. Wir können uns somit bei der Ana¬ 
lyse auf diese eine R 44 beschränken. Sie wurde ebenso 
wie die anderen im Aufträge der "American Historical 
Association" im Jahre 1958 von dem bekannten Histori- 

5) National Archiv. Washington, Mikrofilm-Rolle T 253, R 3777908, Morell Pa- 

6) National Archiv. Washington, Morell Papers T 253 - R 44/F. 78-81 


4 




ker Prof. Weinberg — wie durch Unterschrift bestätigt 
— katalogisiert. 

Die Auszählung ergibt, daß 883 der insgesamt 1.321 
Aufnahmen auf dieser R 44 in gleicher Weise wie die auf 
den anderen Rollen lediglich private und geschäftliche/ 
ärztliche Morell-Angelegenheiten betreffen; bei den wei¬ 
teren 438 ist dies in Zweifel zu ziehen. Es handelt sich 
vielmehr um Dokumente anderer und unterschiedlicher 
Herkunft. 

DieFolder (Hefter) 73+ 77 bestehen aus 113 Blättern 
eines in einer Behörde geführten Tischkalenders, auf 
dem als Rubriken täglich ausgedruckt sind: Zeit, Be¬ 
sprechungen (im Hause / außer Haus); Ferngespräche 
(von ... ab); Verschiedenes. Sie erstrecken sich auf die 
Zeiträume vom 1.10. - 31.12.1943 und vom 1.1. - 8.5. 
1945; die letzte Eintragung erfolgte am 8.5. An den 
Wochenenden bleibt der Terminkalender zumeist leer, 
auch in den Zwischenzeiten fehlen wiederholt 6-10 Tage 
lang die sonst häufigen, rein dienstlichen Notizen. Die 
schwer lesbare Schrift stammt durchweg von 1 Person 
und ist mit Sicherheit nicht die aus unzähligen Briefen 
u.s.w. bekannte und eindeutig identifizierbare Morells. 
Der Beamte/Angestellte strich Erledigtes energisch durch, 
so daß nur gelegentlich noch Worte, praktisch aber keine 
Namen, zu entziffern sind. Lesen kann man: Markthal¬ 
le, Opel, Dorpat, Reval, Futter, Kühe, Koffer mit Mantel 
und Anzug, eigener Hut (schwarz)-, Ratskeller Schöne¬ 
berg, Kasino, Arbeitsausschuß, Reichsgruppenbespre¬ 
chung, Reichskredit- und Reichshilfeaktion, Deutsche 
Bank, Betriebsappell. 

Weder Namen, noch Dienststelle des den Kalender 
Führenden sind zu ermitteln; da die letzte Eintragung 
am 8. Mai 1945 erfolgte, dürfte es sich wohl um eine 
zivile gehandelt haben. 

Folder 76, von Weinberg als "Medical and financial 
register 1944-45" bezeichnet, besteht aus 67 Seiten. Da¬ 
von sind 55 diejenigen eines Konto- oder Dienstlei¬ 
stungsbuches, mit je 3 Tagen auf einem Blatt, das die 
Rubriken "Spätdienst, krank, Urlaub, Diktat, Tage- 
buch-Nr." enthält und, mit Lücken, vom 5.8.1943 bis 
zum 12.4.1945 benutzt wurde. Außerdem befinden sich 
in diesem Hefter noch 12 Seiten eines von einer Hand 
geführten Kontobuches mit den Rubriken: laufende Nr., 
Datum der Auszahlung, wofür, Betrag. Die Ausgaben 
betreffen, soweit entzifferbar, solche für Benzin, Ersatz¬ 
teile für Elektrogeräte, el. Batterien, PKW-Reparatu- 
ren, Nägel, Besen, Fahrgeld, Zeitungen u.a., in keinem 
Fall Medikamente oder medizinisches Gerät. Beginn der 
Eintragungen 1.9.1944, Ende 13.4.1945 mit Porto für 
Weihnachtsgeld. 

Obige Analyse beweist eindeutig, daß es sich bei den 
Foldern 73, 76 und 77 der "Morell-Papers" um von 
Weinberg übersehene Irrläufer handelt, welche mit Morell 
nichts zu tun haben. Einer gleichen Prüfung müssen die 
im unmittelbaren Anschluß an die 3 genannten Hefter 
abgefilmten Folder 78-81 unterzogen werden; denn sie 
enthalten die Schriften und Ausführungen zur Frage 
"Euthanasie" und bilden die Grundlage der Behauptun¬ 
gen von Aly und Roth. Ihnen genügte als Beweis die 
kurze Bemerkung Weinbergs:"compi/ed for or by Mo¬ 


rell" (".zusammengestellt für oder von Morell"). 

Die 258 Seiten der obigen Hefter haben folgenden 
Inhalt: Fotokopien/Fotografien von z.T. umfangreichen 
wissenschaftlichen Arbeiten aus den Jahren 1901-1936. 
Sie behandeln sämtlich die ärztliche und rechtliche 
Seite der Euthanasie und der Vernichtung lebensun¬ 
werten Lebens, sind deshalb teils von Ärzten, teils von 
Juristen verfaßt und in ärztlichen, juristischen, philoso¬ 
phischen, theologischen Zeitschriften erschienen und 
der Originalliteratur, nicht etwa Sonderdrucken ent¬ 
nommen. Die Mehrzahl der Veröffentlichungen liegt vor 
dem Jahr 1931. Wir zählten 44 Arbeiten aus, ein Ver¬ 
zeichnis enthält 82 Nr., weshalb anzunehmen ist, daß 
das an dieser Stelle eingeordnete Material unvollstän¬ 
dig abgefilmt wurde resp. sich an anderer Stelle befin¬ 
det. Zusammengestellt wurden die Unterlagen anschei¬ 
nend in einer Landesbibliothek; denn es heißt an einer 
Stelle, daß ein Buch in der Landesbibliothek nicht zu 
erhalten gewesen sei. 

Der Literaturkollektion folgten nach ei nem Brief, der 
den Schlüssel zum Verständnis des Ganzen abgibt und 
deshalb später zu besprechen sein wird, Exzerpte aus 
Buchbesprechungen des im Mittelpunkt der Ausfüh¬ 
rungen stehenden bekannten Buches vom Strafrechtler 
Karl Binding und dem Neuropathologen Alfred Hoche, 
"Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", 
Leipzig 1920, ferner Ausführungen von mehr als 70 
Personen, darunter von Hitler und Rosenberg, zum 
Thema. 

Die Zusammenstellung endet mit 8 Seiten eines "Ent¬ 
wurfes", der mitS. 2 beginnt, weswegen Titel, Verfasser¬ 
name und Zeit der Entstehung nicht feststellbar sind. 
Die Seitenzahlen sind wie der ganze Entwurf mit Ma¬ 
schine geschrieben, lediglich "Entwurf S. 5" wurde 
handschriftlich gemacht. Die Schrift ist ebensowenig 
diejenige Morells, wie die der kaum entzifferbaren Rand¬ 
bemerkung auf S. 2 ("Behandlung des Vorschlages . 

der privaten Initiative überlassen und prüfen Perso¬ 
nen abhängig ist .") 

Diese Fleißarbeit, deren Erstellung einschließlich Li¬ 
teratursammlung und Auswertung die volle Arbeits¬ 
kraft eines sachkundigen Mannes mit medizinischen 
und juristischen Kenntnissen über Monate hin bean¬ 
sprucht haben dürfte, sprechen nun Aly und Roth ganz 
und gar Morell zu. Dieser habe sie im Aufträge Hitlers 
1939 gefertigt. Dem muß widersprochen werden; ein 
Morell war weder zeit-, noch kenntnismäßig, noch aus 
Gründen seiner Arbeitsweise hierzu geeignet und fähig; 
zeitmäßig nicht, weil er zumeist in Hitlers Nähe weilte, 
abgesehen davon seine recht umfangreiche Praxis ver¬ 
sorgte und schließlich schon damals seinen pharmazeu¬ 
tischen Geschäften nachging. Kenntnismäßig fehlte ihm 
mindestens jede juristische Vorbildung, weshalb er ab 
1943 einen Juristen in seinen Stab zog. Es gibt zudem 
keinerlei Hinweis aus früherer oder späterer Zeit, daß er 
sich auch nur im geringsten für psychiatrische oder gar 
Euthanasiefragen interessierte. Und schließlich lag ihm 
systematisch-wissenschaftliche Arbeit nicht; er hatte 
Einfalle, notierte sie eigenhändig, skizzierte Gedanken 
und Möglichkeiten. Er arbeitete aber niemals etwas 


Hutcriaehe ' 


5 





gründlich durch und aus. Hätte er jedoch wirklich mit¬ 
gewirkt, so hätte man an unzähligen Stellen seine Be¬ 
merkungen in charakteristischer Schrift mit abgekürz¬ 
ter Unterschrift feststellen müssen. Davon ist nichts zu 
entdecken; sein Name taucht im Gesamttext nirgends 
auf - abgesehen von Weinbergs Bemerkung in der Be¬ 
schreibung "compiled for or by Morell. "Aufdiese nichts¬ 
sagenden Worte gründen Aly und Roth ihre weitrei¬ 
chenden Behauptungen, die auch schon deshalb in Zweifel 
zu ziehen sind, weil Morell 1939 bei Hitler noch keines¬ 
wegs die Vertrauensposition innehatte, die er etwa ab 
1941 einnahm. 

Jedoch kann dies allein noch nicht vollauf überzeu¬ 
gen, solange man den wirklichen Autor nicht kennt. 
Dessen Feststellung dürfte aber nicht unmöglich sein. 
Aly und Roth erwähnen mehrmals den Briefeines Asses¬ 
sors Schmidt-Rost, bringen aber lediglich Hinweise und 
einen kurzen Auszug, der ihrer Absicht entspricht. Er 
ist jedoch der Schlüsel zu der Erkenntnis, und so ist es 
erforderlich, ihn vollständig wiederzugeben. 

"Werner Schmidt-Rost 28. August 1939 ^ 

Assessor 

Anden 

Herrn Reichsstallhalter 

Martin Mutschmann 

Dresden Al 

Schloßplatz 1 

Auf persönliche Durchsicht dieses Schreibens durch den 
Herrn Reichsstatthalter legt der Absender besonderen Wen. 

Betr.: Vernichtung lebensunwerten Lebens (Vollidioten) 

Im Jahre 1922 hat der berühmte Irrenarzt Prof. Dr. 
Hoche mit Unterstützung des ebenso berühmten Strafrecht¬ 
lehrers Karl Binding vorgeschlagen, jene Vollidolen, die geistig 
völlig tot und körperlich ein Abscheu erregendes Zerrbild der 
Menschengestall sind, nicht mehr länger für teures (leid in den 
Irrenanstalten zu hegen, sondern durch medizinischen Eingriff 
ihr Leben zu verkürzen. 

An Hand des von mir hierzu im Vorjahre gesammelten 
Schrifttums wird sich jeder vernünftige Deutsche von der 
Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Vorschläge überzeugen 
können. Es geht nicht an, daß Lebewesen, die unter dem 
Niveau mancher Tiere stehen, kunstvoll durch einen großen 
Stab von Ärzten und Pflegern durchgefuttert werden, wenn 
die Nahrung für die gesunden Menschen schon knapp ist. So 
schrieb der Tübinger Psychiater Gaupp seinerzeit zu Bin- 
ding-Hoches Vorschlag': 

Aus persönlicher Erfahrung füge ich hinzu: es ist mir im 
Winter 1916/17, als unserVolkmit demHungertode kämpfte, 
oft nicht leicht geworden, die frühere Sorgfalt in der Pflege 
wertloser Leben unheilbar Geisteskranker auszubringen und 
um ihre reichliche Ernährung mich zu bemühen, während 
draußen im Leben der Hunger die vollwertigen Menschen 
schwächte und manche aufs Krankenlager tuberkulösen Siech¬ 
tums warf.....' 

Ich unterbreite Ihnen, Herr Reichsstatthalter, diesen 
Vorschlag Binding-Hoches in der Hoffnung, daß Sie sich für J 


eine alsbaldige Durchführung einsetzen werden. Es handelt^ 
sich hier um Güterabwägungen, die endlich zu tatkräftigem 
Handeln föhren müssen, sowohl im Frieden, wie auch im 
Kriegsfälle. 

Ich darf noch auf folgende Worte des Führers und Alfred 
Rosenbergs hinweisen: 

»Mein Kampf«, S. 144 ff und 148 unten - »Mythos des 20. 
Jahrhunderts® «, S. 69 und S. 578. Vor irgendeiner Entschlie¬ 
ßung empfehle ich, persönliche Besichtigung der Vollidioten 
in der Landesirrenanstalt in Amsdorf. Für mich war das 
Erlebnis dieser Besichtigung ausschlaggebend für eine gründ¬ 
liche Bearbeitung dieser Vorschläge. Ich bin bereit, an Hand 
meiner ausführlichen Materialsammlung, die Vorschläge 
Binding-Hoches an jeder Stelle zu vertreten und bei Durch¬ 
führung derselben jede verantwortliche Tätigkeit zu über¬ 
nehmen. Eine Rundfrage des Medizinalrats Meitzer, früher 
Großhennersdorf, der an sich gegen die Vorschläge aufge¬ 
treten ist, bei den Angehörigen solcher Vollidioten ergab, 
daß von diesen kein Widerstand, überwiegend sogar Zustim¬ 
mung zu erwarten ist. 

Wir können einen Millionenaufwand sparen, einige tau¬ 
send gesunde Menschen mehr ernähren und Pflegepersonal 
für andere Zwecke frei machen, wenn wir den Mut zum 
Handeln haben und uns nicht um die überall vorhandenen 
Bedenklichkkeilskrämer kümmern. 

Heil Hitler 

gez. Werner Schmidt-Rost." 

v___/ 

Der Brief beweist, daß der Assessor es war, der die 
Literatur in der sächsischen Landesbibliothek seit etwa 
1938 sammelte, exzerpierte und kritisch beurteilte. Hierbei 
und bei Besuchen in Heil- und Pflegeanstalten erwarb er 
zu den juristischen einschlägige medizinische Kennt¬ 
nisse hinzu, die er zusammengefaßt in dem stärker juri¬ 
stisch als medizinisch angelegten Entwurf als Vorschlä¬ 
ge dem für ihn zuständigen Gauleiter von Sachsen 
Martin Mutschmann zur persönlichen Durchsicht über¬ 
reichte. Ob dieser oder ein von ihm Beauftragter es war, 
der auf dem Briefbogen den Namen der wichtigsten Au¬ 
toren (darunter Hitler, Rosenberg) schrieb und die be¬ 
reits erwähnte Randbemerkung auf S.2 des Entwurfs 
machte, kann nicht mehr eruiert werden. 

Das gesamte Bündel landete schließlich, wie aus 
Stempeln im Folder 81 hervorgeht, in der Bücherei der 
"Reichsarbeitsgemeinschaft für Heil- und Pflegeanstal¬ 
ten"; was aus dem einsatzgierigen Assessor wurde, ist 
nicht bekannt. Sein Name taucht jedenfalls in der 
Literatur über die Morde an Geisteskranken und Behin¬ 
derten nicht auf. 

Damit dürfte eindeutig klargestellt worden sein, daß 
es sich bei den Heftern 78-81 der R 44 der "Morell- 
Papers" ebenfalls um Irrläufer handelt, welche Wein¬ 
berg oder Mitarbeiter an falscher Stelle eingeordnet 
haben. Jedenfalls war Morell nicht Hitlers Vemich- 
tungs- und Euthanasieberater, sondern dieser ließ sich 
von anderen Stellen unterrichten. 


6 





"Darf sich des besonderen Schutzes 
des Führers sicher sein" 


Unterstellung 

In seinem Beitrag "Die Aktion T 4 und die Stadt 
Berlin" 71 äußert G. Aly: 

"Der bereits erwähnte Oberarzt Willy Behrendt könnte 1941 
vorübergehend Leiter des Tötungszentrums Hadamar gewesen 
sein. Dies bezeugte die ehemalige Wittenauer Pflegerin Hack¬ 
barth 1948, und dafür spricht eine merkwürdige Formulierung, 
die sich auf einer Beförderungsurkunde Behrends aus dem Jahre 
1942 findet. Dort heißt es, 
der Beförderte könne sich 

>des besonderen Schut¬ 
zes des Führers sicher 
sein«. 

Diese Formulierung kann 
sich auf eine geheime Tätig¬ 
keit dieses Berliner Arzles be¬ 
ziehen . Entsprechend 

bemerkt N. Emmerich in Die 
Wittenauer Heilstätten 1933- 
I945" n , S. 88:.... 1942 wurde 
der inzwischen beamtete A rzt 
zum Oberarzj ernannt: "Zu¬ 
gleich darf er sich des be¬ 
sonderen Schutzes des 
Führers sicher sein" heißt 
es in der Urkunde." 


Slegaund i 


an dar Volksschule ln Speyer ooa l.Hooember 
19)5 an zum Lehrer an dar glalchan Schule. 

Jch vollziehe diese Urkunde in dar Erwartung, 
daß dar Ernannte gatrau satnaa Diensteide seine Amts¬ 
pflichten gewissenhaft erfüllt und das Vertrauen 
rechtfertigt, das ihn durch diese Ernennung bewiesen 
wird. Zugleich darf er des besonderen Schutzes des 
Führers und Reichskanzlers sicher sein. 

3 p e g e r , den 19 .Oktober 1935. 

Hamens des Führers und Reichskanzlers 
Für den Reichsstatt) 
der Reglerungspräsl‘ 


Verfasser verfügt über 5 Ernennungs- resp. Beförde¬ 
rungsurkunden aus den Jahren 1938-1942. Zwei wur¬ 
den ausgestellt vom "Reichsminister für Wissenschaft, 
Erziehung und Volksbildung", eine vom "Reichsmini¬ 
ster für Bewaffnung und Munition", eine vom Oberbür¬ 
germeister der Hauptstadt der Bewegung (München) 
und die letzte schließlich vom Präsidenten der Reichs¬ 
bahndirektion Köln für den Reichsverkehrsminister. 

_ Die Ernennungen / Beför¬ 
derungen erfolgten sämtlich 
im Namen des Führers (ein¬ 
mal: und Reichskanzlers) und 
enthalten mit unwesentlichen 
Variationen den Passus: 


"Ich vollziehe diese Urkunde 
in der Erwartung, daß der Er¬ 
nannte getreu seinem Diensteide 
seine Amtspflichten gewissenhaft 
erfüllt und das Vertrauen recht¬ 
fertigt, das ihm durch diese Er¬ 
nennung erwiesen wird," 



Sachverhalt 

Die "merkwürdige" 

Formulierung in der 
Urkunde deutet nach 
Ansicht der genannten 
Autoren daraufhin, daß 
der Führer die Beförder¬ 
ten vor möglichen gericht¬ 
lichen Maßnahmen schüt¬ 
zen werde, die gegen sie 
wegen verbrecherisch- 

ärztlicher Handlungen_ 

eingeleitet werden könn- "" 
ten; denn sie hätten diese insgeheim auf seine Anwei¬ 
sung hin vorgenömmen. 

Es bleibt zu prüfen, welche Bewandtnis es mit der 
Formulierung auf sich hat. 


- Uujern 
r Pfalz. 


1988. - Beitrag G. Aly , S. 136-149, dort S. 147 - 148; + 

N. Emmerich S. 77-92; U. Grell, "Karl Bonhoeffer und die Rassenhygiei 
207-218. 


oder seitens des Rüstungs¬ 
ministers differenzierter: 

Ich erwarte, daß er seine 
verpflichtenden Aufgaben unter 
Einsatz seiner ganzen Persönlich¬ 
keit bedingungslos und uneigen¬ 
nützig erfüllt; denn vom Erfolg 
seiner Arbeit hängt das Schicksal 

vieler Frontsoldaten ab ." 

Dieser Anweisung folgt vor 
der Unterschrift dann stets 
der Satz: 

"Zugleich darf er sich des 
besonderen Schutzes des Führers 
(und Reichskanzlers) sicher sein." 


Es handelt sich mithin nicht, wie Aly und Emmerich 
annehmen, um eine Spezialformulierung ad hoc, son¬ 
dern um eine Allgemeinfloskel, die besagt, daß auch der 
Dienstgeber dem Dienstnehmer gegenüber Verantwor¬ 
tung übernimmt. Sie wurde nicht erst im Drittten Reich 
eingefuhrt, sondern bestand schon zu Kaisers Zeiten, wie 
aus einem Offiziers-Patent aus dem Jahre 1887 ersicht- 

8) Joseph Walk, "Jüdische Schule und Erziehung im Dritten Reich", Frankfurt/M 
1991, S. 227. 


Nr. 55 


7 








lieh ist. Nach einer sehr persönlichen Beschreibung der 
Dienstpflichten des Beförderten schließt die Urkunde: 

"Dagegen wollen Allerhöchst dieselben Dero nun¬ 
mehrigen Hauptmann S. bei dieser Charge und der ihm 
anvertrauten Compagnie nebst allen demselben daher 
zustehenden Prärogationen und Gerechtsamenjederzeit 
in Gnaden schützen und maintenieren (Hand über ihn 
halten!). DeszuUrkund haben seine Königliche Majestät 
dieses Patent Eigenhändig unterschrieben und mit Dero 
Insiegel bedrucken lassen. So geschehen und geqe- 
ben ." 

In der Bundesrepublik Deutschland fehlt die persön¬ 
liche Ansprache. In einer Urkunde aus dem Jahre 1951 


steht lediglich: 

"Im Namen der Bundesrepublik verleihe ich dem . die Ei¬ 
genschaften eines Beamten auf Lebenszeit . Ort, Datum, 

Unterschrift der Behörde." 

Nur beiläufig sei in diesem Zusammenhang bemerkt, 
daß selbstverständlich die Verleihungsurkunde fiir die 
Goethe-Medaille, welche Karl Bonhoeffer anläßlich sei¬ 
nes 75. Geburtstages im Jahre 1943 erhielt, die Unter¬ 
schrift Hitlers trug. Dies gehört seit jeher zu den Pflich¬ 
ten eines Staatsoberhauptes, wenn er höchste Auszei- 
chungen vergibt und deutet keineswegs auf eine "beson¬ 
dere" Beziehunghin, wieU. Grell untersch wellig andeu¬ 
tet (1/S. 212). 


Sollten die Geisteskranken und körperlich Behinderten 
im Kriege verhungern? 


Unterstellung 

In seinem Beitrag "Die Wittenauer Heilstätten 1933 
-1945 stellt N. Emmerich 9 ' zur Ernährungsversorgung 
der in den psychiatrischen Anstalten untergebrachten 
Geisteskranken fest: 

"Über die Ernährung und Verpflegung während des 
Krieges ist nichts genaues bekannt, doch darf man wohl 
die Angaben aus französischen Lehrbüchern, daß die Na¬ 
tionalsozialisten im Kriege die Reduktion der Kost in 
psychiatrischen Kliniken auf 1.100 Kalorien ungeordne¬ 
ten, übertragen." 

Sachverhalt 

Auf schwierigste Weise mußten in Zusammenarbeit 
von Ärzten, Krankenanstalten, Patienten ab September 
1939 Erfahrungen über die Auswirkung der Lebensmit¬ 
telrationierung auf die Kranken gesammelt, diese zu¬ 
gleich aber auch schon beraten werden. Ab April 1940 
bis Mai 1942 konnte die Abteilung "Krankenernährung" 
der Reichsärztekammer die Schrift "Grundlagen und 
Vorschriften für die Regelung der Krankenernährung 
im Kriege" 10 ' in insgesamt etwa 150.000 Exemplaren 
kostenlos an sämtliche noch im Zivilbereich praktizie¬ 
rende Ärzte verteilen. Anhand dieser Schrift konnte 
jeder Arzt, ob in der Praxis oder im Krankenhaus tätig, 
die Ernährung seiner Kranken, ihrem Zustand entspre¬ 
chend, so günstig gestalten, wie es unter Kriegsverhält¬ 
nissen eben möglich war. 

Das Büchlein war im engsten Einvernehmen mit den 


9) N. Emmerich, "Die Wittenauer Heilstätten 1933-1945" in "Totgeschwiegen 
1933-1945 ~ Die Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" Wiss Ber 

G. Aly Berlin 1988, S. 77-92, dort S. 84. 

10) E.G. Schenck, "Grundlagen und Vorschriften für die Regelung der Kranken- 
ernährung im Kriege", Berlin-Wien 1940-1942 (4 Auflagen) 108 S., dort S. 40 


zuständigen Abteilungen des Reichsministeriums für 
Ernährung und Landwirtschaft verfaßt worden, ent¬ 
hielt also auch die gemeinsam erarbeiteten Erlasse, 
welche nicht nur die Einzelernährung, sondern auch die 
Gemeinschaftsverpflegung z.B. in den verschiedenen 
Krankenanstaltskategorien betrafen. 

Der Kranke in einer Anstalt erhielt die zustehende 
Ration als Normalverbraucher" und darüberhinaus in 
jedem allgemeinen Krankenhaus Sonderzulagen, die 
aber entsprechend der Art der Krankheit oder körperli¬ 
chen Beanspruchung gestaffelt wurden. Lungenheil¬ 
stätten, Entbindungsanstalten und Kinderkrankenhäu¬ 
ser erhielten die höchsten Zulagen. 

Besserstellungen über die Sätze der Normalverbrau¬ 
cher hinaus wurden nicht vorgesehen für Trinker-Heil¬ 
anstalten, Heilstätten für Süchtige und Geschlechts¬ 
kranke, für Krüppelheilstätten, chronisch Kranke und 
Sieche, Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke, 
Schwachsinnige, Epileptiker und Gefangene. Dies war 
insofern berechtigt, als alle diese Kranken keinen höhe¬ 
ren physiologischen Nahrungsmittelbedarf aufwiesen 
als die durchweg in Arbeit stehenden Normalverbrau¬ 
cher und die besonders beanspruchten Hausfrauen. 

Bestanden in solchen Anstalten jedoch Krankensta¬ 
tionen, so wurden diese entsprechend den höheren Sät¬ 
zen der Allgemeinen Krankenhäuser versorgt; war dies 
nicht der Fall, so konnte der Anstaltsarzt im jeweiligen 
Einzelfall die entsprechende Einzel-Regelung in An¬ 
spruch nehmen. 

Daraus folgt, daß die Insassen von Heil- und Pfle¬ 
geanstalten in genau der gleichen Weise behandelt wurden 
wie die große Menge der Normalverbraucher. 

Darüberhinaus erhielten alle Krankenanstalten 
Sonderzuteilungen von nicht rationierten, sondern le¬ 
diglich bewirtschafteten Gemüse- und Obstkonserven. 


8 


Historische Tatsachen Nr. 56 









Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck während des Krieges 
bei einer Krankenvisite mit seinem Assistenzarzt 


15 Dosen für jedes belegfähige Bett bekamen die allge¬ 
meinen Krankenanstalten, 10 Dosen entsprechend 
Krüppelheilanstalten, Anstalten für chronisch Kranke 
und Sieche, Heil- und Pflegeanstalten, Krankenstatio¬ 
nen oder Anstalten für Schwachsinnige. 

BohnenkafFee und echten Tee erhielten u.a. Anstal¬ 
ten für chronisch Kranke und Sieche, für neurologisch 
Kranke, Krankenstationen von Heil- und Pflegeanstal¬ 
ten. Diese "Raritäten" wurden an die Zivilbevölkerung 
nur bei besonderen Gelegenheiten, z.B. nach schweren 
Bombenangriffen ausgegeben (Volksname: Zitterkaffee 
= 50 g.) 

Zahlreiche Heil- und Pflegeanstalten besaßen eigene 
landwirtschaftliche Betriebe und wurden seitens des 
Ernährungsamtes als Selbstversorger anerkannt. Sie 
konnten somit Erzeugnisse ihrer Gärtnereien u.s.w. zur 
Beköstigung der Anstaltsinsassen verwenden. Die Ver¬ 
wendung dieser selbsterzeugten Nahrungsmittel blieb 
besonderer Regelung Vorbehalten, was den betreffenden 
Anstaltsleitern einen.erheblichen Spielraum beließ. 

Aus dem Gesagten ergibt Sich, daß, so groß das Un¬ 
glück für sie schließlich auch wurde, von den für ihre 
Ernährung verantwortlichen Ärzten nicht daran ge¬ 
dacht wurde, Geisteskranke u.s.w. schlechter als die 
Normalverbraucher zu stellen, womit sie sich in Über¬ 
einstimmung mit den zuständigen Abteilungsleitern im 
RMEuL (Reichsministerium für Ernährung und Land¬ 
wirtschaft) befanden. 

Trotzdem ist erwiesen, daß in Heil- und Pflegeanstal¬ 
ten Hungerbaracken eingerichtet wurden, und es auf 
diese Weise zu einer Selektion unter Geisteskranken 


kam. Ein Erlaß des Bayer. Staatsministers des 
Innern vom 30.11.1942 besagt u.a.: es sei im 
Hinblick auf die kriegsbedingten Ernährungs¬ 
verhältnisse und auf den Gesundheitszustand 
der arbeitenden Anstaltsinsassen nicht mehr 
länger verantwortbar, daß sämtliche Insassen 
unterschiedslos die gleiche Verpflegung er¬ 
halten. "Es wird daher angeordnet, daß mit 
sofortiger Wirkung sowohl in quantitativer 
wie in qualitativer Hinsicht diejenigen Insas¬ 
sen die nutzbringende Arbeit leisten oder 

in therapeutischer Behandlung stehen, ferner 
die noch bildungsfähigen Kinder, die Kriegs¬ 
geschädigten und die an Alterspsychose Lei¬ 
denden zu Lasten der übrigen Insassen besser 
verpflegt werden." 

In der Anstalt Eglfing verhungerten infol¬ 
ge dieses Erlasses in 2 Hungerhäusern bis 
1945 = 444 Geisteskranke. 111 Dies wurde erst 
lange nach dem Kriege bekannt, war aber 
damals schon, als in dieser Weise selektiert 
wurde, nicht zu verantworten. Doch wäre es 
zu verhindern gewesen, wenn ein Ärztin einer 
solchen Anstalt, dem die obengenannten 
"Grundlagen usw." ja persönlich zugestellt 
worden waren, den Mut gehabt hätte, sich 
über den Anstaltsleiter und das Bayer. Mini¬ 
sterium hinweg, direkt an die Abteilung "Kran¬ 
kenernährung" der Reichsärztekammer zu wenden. Diese 
hätte, das darf der Verfasser wohl behaupten, in Zusam¬ 
menarbeit mit dem Reichsministerium für Ernährung 
und Landwirtschaft energisch eingegriffen. 


Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck nach Rückkehr 
aus 10-]ährlger sowjetischer Gefangenschaft 


11) G. Schmidt, "Selektion in der Heilanstalt", Stuttgart 1965,-S. 128 u. ff. 


Historische ' 


9 




Tötung behinderter Kinder 

"aus wissenschaftlicher Neugierde" ? 


Unterstellungen 

In ihrem Beitrag "Kinderfachabteilung Wiesengrund" 
vermittelt M. Krüger 1 » in beklemmender Weise den Ein¬ 
druck, der "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Er¬ 
fassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" 
(später bei ihr stets »Reichsausschuß«) habe schwerstge- 
schädigte und behinderte Kinder lediglich deshalb in die 
sogenannte Kinderfachabteilung der Wittenauer Heil¬ 
stätten eingewiesen, damit dort mit ihnen unter Inkauf¬ 
nahme des Todes experimentiert werden könne. Die 
beabsichtigte Tötung sei sowohl mittels Überdosierung 
von Hypnotika, bewußt unterlassener Behandlung (im 
Krankheitsfalle) oder durch Verhungern herbeigeführt 
worden. 131 


Hieb- und stichfeste Beweise hierfür vermag Verfas¬ 
serin nicht zu erbringen, so daß sie selbst mehrfach 
äußern muß, "Tötungsermächtigungen lassen sich nur 
indirekt erschließen" resp-, "Einiges spricht dafür, daß. 
... , Die Durchsicht der Krankengeschichten vermittelt 

den Eindruck, daß.... oder "Es liegt der Verdacht nahe .". 

Substantieller sind die Angaben über die Tuberkulinbe¬ 
handlung, in denen die Autorin den damals als Vorbild 
der deutschen Pädiatrie (Kinderheilkunde) hochgeschätz¬ 
ten Berliner Kinderkliniker Prof. Dr. Georg Bessau 
(1884-1944) und in diesem Zusammenhang dann auch 
dessen Schüler Dr. Ernst Hefter (1906-1947) beschul¬ 
digt, Tuberkulinimpfungen mit tödlichem Ausgang bereits 
ab 1915 betrieben zu haben. Fragwürdige Experimente, 
so schreibt sie, waren schon zu früherem Zeitpunkt kein 
Hindernis für Bessau. In seiner 1915 veröffentlichten 
Habilitationsschrift beschrieb er seine umfangreichen 
Versuche an Kindern der Universitätsklinik Breslau, 
die monatelang täglichen Tuberkulineinspritzungen un¬ 
terzogen wurden. Fieber und langwierige Abzeßbildun- 
gen waren die Folge. 

"Bemerkt se i, daß bei derartigen Versuchen natürlich nur 


12) Martina Krüger, "Kinderfachabtlg. Wiesengrund. Die Tötung behinderter 
Kinder in Wittenau in: "Totgeschwiegen 1933-1945", hrsg. Arbeitsgruppe 
zur Erforschung der Geschichte der Karl Bonhoeffer-Nervenklinik. Wiss 
Berater G. Aly, Berlin 1988, S. 151 u. ff. + 

Krehl - Mering - Bergmann, 'Lehrbücher der Inneren Medizin”, 1922+ 1934 


A. Goldscheider, "Therapie innerer Krankheiten", Berlin 1929 + 

R. Franck, "Moderne Therapie", Berlin - Göttingen -Heidelberg 1949 + 

R. Finkeiburg, Die Therapie an den Bonner Universitätskliniken", Berlin - 
Köln 1931 + 

193eT ArZne ' bUCh ^ d ' e Stadt ’ Krankenanslal,en m München“, München 
13) G. Schmidt, "Selektion in der Heilanstalt 1939-1945", Stuttgart 1965, S. 113, 
hier Kapitel: " Sollten die Geisteskranken und körperlich Behinderten im 
Kriege verhungern?" 


klinisch gesunde . Kinder ein eindeutiges Resultat ergeben 

können." (Zitat Bessau) 

Folgt man Krügers Bericht, so habe Bessau, nun¬ 
mehr zusammen mit Hefter, in Wittenau 1942/43 seine 
ersten Untersuchungen mit dem nicht identifizierbaren 
Tb-Impfstoff 0,001 fortgesetzt. Außerdem sei im Zusam¬ 
menhang hiermit von Marianne Salzmann in der Uni¬ 
versitätskinderklinik Berlin über die Frage der Beein¬ 
flussung von Eiterungen durch Zugabe von Ascorbin¬ 
säure tierexperimentell und klinisch gearbeitet worden, 
was Martina Krüger zum Anlaß nimmt, den Verdacht zu 
äußern, daß Marianne Salzmann die durch Bessau-Im- 
pfungen bei Kindern hervorgerufenen, oft monatelang 
bestehenden Abzeßbildungen als weitere Forschungs¬ 
möglichkeit willkommen waren. 

Zu prüfen ist die Validität der Angabe, daß 4 Mitar¬ 
beiterinnen Hefters zum Jahresabschluß 1944 Sonder¬ 
zuwendungen erhielten, weil sie an der Ermordung be¬ 
hinderter Kinder "mitarbeiteten", (s. S. 174) 


Sachlage 

Die apodiktische Angabe der Autorin, Mitarbeiterin¬ 
nen Dr. Hefters hätten an der Ermordung behinderter 
Kinder "mitgearbeitet" (S. 174), ist unrichtig, wenn man 
ihren eigenen Ausführungen auf S. 173 folgt. Denn in 
dieser Sache wurden in den sechziger Jahren am Land¬ 
gericht, später am Kammergericht Berlin ein Verfahren 
durchgefiihrt, in denen den genannten Schwestern keine 
Mitwirkung an Euthanasiemaßnahmen nachgewiesen 
wurde. Zu Verurteilungen kam es nicht. Die vorgenann¬ 
te Floskel zeugt von dialektischer Schulung, da sie den 
Gerichtsbeschluß ohne Begründung als falsch oder un¬ 
zureichend verdächtigt. Im übrigen folgt die Diskrimi¬ 
nierung dem Muster, zu dem Verfasser sich bereits 
geäußert hat: 141 In der Unterschrift zu einem auch in die¬ 
sem Falle belanglosen Brief wird die Diffamierung ver¬ 
steckt. 

Verfasser beabsichtigt nicht, sich dem deprimieren¬ 
den Eindruck zu entziehen, den ärztliches Verhalten 
seiner Altersgenossen in psychiatrischen und anderen 
Anstalten zur Zeit des Dritten Reiches in ihm maxi¬ 
miert. Er ist nicht nur nachträglich ergriffen und heuti¬ 
gen Anklägern gegenüber in mancher Hinsicht waffen¬ 
los, sondern bemühte sich bereits damals, soweit es in 
seinem Vermögen lag, Unheil zu bannen, und er fand 
viele Gefährten dabei. 


14) "Medikament aus Lebern von Menschen?" , vgl. hier S. 3, 


10 


Historische Tatsachen Nr. 55 





Er wendet sich deshalb gegen das vollständige "Land 
unter", das Zeitgeschichtsrechercheure, die sich als Hi¬ 
storiker betrachten, Generationen, die in unserer ersten 
Jahrhunderthälfte lebten und in ihrer Weise wirkten, 
bereiten wollen. Er würde es außerordentlich bedauern, 
wenn etwa im Jahr 2030jene Wisenschaftler und Ärzte, 
die sich im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ver¬ 
zweifelt um Verhütung und Heilung der AIDS-Krank- 
heit bemühten, wegen ihrer Versuche und Untersu¬ 
chungen an Gefährdeten und Kranken von denen zu 
Verbrechern und Mördern erklärt werden, die ihre 
Erregungen nicht nachempfinden können, weil das Heil¬ 
mittel gefunden und die Krankheit zu anderen überhol¬ 
ten ad acta gelegt und vergessen werden konnte. 

Mit welch verzweifelter Leidenschaft bemühte man 
sich doch bis in die vierziger Jahre in aller Welt um 
Verhütung und Heilung der Tuberkulose, an welcher 
allein in Deutschland Hunderttausende litten, und sie, 
z.T. ohne ihr Wissen, weiterverbreiteten. Welche furcht¬ 
baren Krankheitsbilder lieferte sie doch, wie Verfasser 
aus engster Berührung mit Schwerstkranken über Jahre 
hin erfuhr. Wie viele Menschen, Ärzte, Sozialhygieni¬ 
ker, Politiker, sannen, dachten und waren guten Glau¬ 
bens. Man hatte die Blattern durch Schutzimpfung 
ausgerottet, der Diphterie durch die Serumbehandlung 
wenn auch nicht die Häufigkeit, so doch einem Teil ihre 
Gefahr genommen! 

Ein Impfstoff aus bakteriellen Stoffwechselproduk¬ 
ten zur Verhütung der Infektion und zur Steigerung der 
Abwehrkräfte, dies war der Traum Robert Kochs, des 
Entdeckers des Tuberkel-Bazillus, und seiner unabläs¬ 
sig daran arbeitenden internationalen Schule. Die Hoff¬ 
nung auf ein Heilserum ging nie in Erfüllung, und erst 
die Antibiotika brachten die Errettung von dieser welt¬ 
weiten Armutskrankheit, welche - fast unbeachtet und 
beinahe in Vergessenheit geraten - derzeit sogar in 
Deutschland immer noch ungefähr so viele Todesopfer 
fordert wie die Automobilunfalle. 

Georg Bessau, den Martina Krüger gleichsam als In- 
augurator aller üblen Experimente 
an Kindern in den Mittelpunkt ihrer 
Ausführungen stellt, war Kinder- 
Facharzt und als solcher eher Für¬ 
sorger als Mißhandler kranker 
Kinder jeder Art! 

In eine Kinderklinik werden 
gewöhnlich keine gesunden Kinder 
aufgenommen; unter den Kranken 
befand sich z.Zt. der Untersuchung 
Bessaus vor 1915 der damaligen 
Volksdurchseuchung entsprechend 
sicherlich ein sehr hoher Prozent¬ 
satz von Tuberkulösen, welche 
praktisch alle fieberten und viele, 
abgesehen von der Lungenerkran¬ 
kung, anderweitige spezifische 
Prozesse aufwiesen. Die Kinder 
befanden sich sicherlich in den 
verschiedensten Behandlungssta¬ 
dien, und Bessau bemühte sich - 


dies war wohl eine seiner wissenschaftlichen Lebensauf¬ 
gaben -, ihren Zustand durch eine Tuberkulin-Behand¬ 
lung zu bessern, sie vielleicht, in vergeblicher Hoffnung, 
auch zu heilen. 

Zum besseren Verständnis sind einige Fragen zu 
beantworten: Was hat es nun mit den Tuberkulin-Ein¬ 
spritzungen auf sich und was ist Tuberkulin? 

Nach Entdeckung des Tuberkulinbazillus ging Ro¬ 
bert Koch an die Entwicklung eines Medikamentes zu 
seiner Vernichtung im Organismus; er hatte als Vorbild 
Louis Pasteur im Auge, der nach Erforschung des Milz¬ 
brandbazillus ein wirksames Serum gegen den Milz¬ 
brand geschaffen hatte. Die Öffentlichkeit setzte größte 
Hoffnungen auf Kochs Tuberkulin, das aus einem keim¬ 
freien Filtrat abgetöteter Tuberkulose-Bazillen herge¬ 
stellt wurde. Als Tuberkulin (alt) ging es in die Geschich¬ 
te ein, entsprach in seiner Wirkung aber den hochge¬ 
steckten Erwartungen nicht, so daß verschiedene For¬ 
scher immer neue Varianten entwickelten. Darunter be¬ 
fanden sich Emil von Behring, der darüber aus einem 
Schüler Kochs zu dessen Gegner wurde, Calmette, wel¬ 
cher eine Schutzimpfung auf der Grundlage des Rinder- 
Tuberkulosebazillus (BCY) entwickelte und Friedmann, 
der mit Schildkröten- Tbc-Bazillen arbeitete, um nur ei¬ 
nige zu nennen. 

Alle diese Präparate wurden klinisch an Kranken 
geprüft; es wurde mit ihnen behandelt. Ihr Effekt und 
die Reaktion auf sie waren, ebenso wie der Krankheits¬ 
verlauf, schwer voraussehbar. Das allgemeine Streben 
ging dahin, ein Präparat zu schaffen, das möglichst 
wirksam war, aber möglichst geringe Nebenwirkungen 
/ Reaktionen aufwies. Man machte Kuren, indem man 
unter sorgfältiger Beachtung der Reaktionen und des 
weiteren Krankheitsverlaufes in besonders graduierten 
Spritzen 0,1 ccm einer auf 1 : 100.000 verdünnten 
Tuberkulinlösung in oder unter die Haut spritzte und 
dies in Abständen (2-3 Injektionen je Woche) langsam 
verstärkte. Jedoch wurde nie mehr als 1 ccm einer 
Verdünnung 1 : 1000 injiziert. Sorgfältigste Beobach- 



Das SS-Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt 1943/1944 Berlin. 
Es wurde weitergearbeitet. 


Historimche 


Nr. 55 


11 







tung war unabdingbares Gesetz. Bei der Behandlung 
gingen die einen Therapeuten von Minimaldosen aus, 
die sie langsam steigerten, um den Körper gegen die 
Keime unempfindlich zu machen (Anergisten), die ande¬ 
ren steigerten die Dosen nur gering, um so die Abwehr- 
fahigkeit des erkrankten Menschen anzuregen (Allergi- 
sten), jedoch hatte man sich nach dem Befinden des 
Kranken zu richten. 

Man erkennt hieraus wohl, wie ungeklärt die wissen¬ 
schaftliche Situation damals noch war, und dies galt be¬ 
sonders für die Frage der Schutzimpfung, d.h. der Ver¬ 
hütung einer Ansteckung mit Tuberkulose. Eine solche 
Prophylaxe konnte natürlich nur bei gesunden, aber in 
gefährdeter Umgebung lebenden Kindern gewagt wer¬ 
den. Dies meint wohl der von Krüger gerügte Satz 
Bessaus. Daß es hier um äußerst gefährliche Dinge ging, 
zeigt das Lübecker Unglück mit Calmette-Impfstoff im 
Jahre 1926 deutlich genug. 

Wenn bei Krüger von Abzeßbildungen "posthoc, 
propterhoc" geprochen wird, so muß Widerspruch einge¬ 
legt werden; solche Eiterungen gehörten damals durch¬ 
weg zum Krankheitsbild der deletär (tödlich) verlaufen¬ 
den Tuberkulose, das man heute nicht mehr kennt. Die 
in oder dicht unter die Haut injizierten Mengen waren 
nur gering und entsprachen keineswegs den 20, 30 und 
viel mehr ml, an welche Verfasserin vom heutigen Wis¬ 
sensstände ausgehend wohl denkt. 

Die Tuberkulin-Kur gehörte bis 1948 zum Bestand¬ 
teil der spezifischen Tuberkulosetherapie, wurde aber 
doch nur bei einer Minderzahl geeignet angesehener 
Patienten eingesetzt, weil sie sorgfältigste Beobachtung 
voraussetzte. Sie wird in praktisch allen einschlägigen 
Lehrbüchern u.s.w. angeführt und beschrieben. Auch 
Verfasser wendete sie noch an. 

Gehen wir nun zu der Kindernervenklinik in den 
Wittenauer Anstalten über, so ist mit an Sicherheit 
grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß sich 
unter den dorthin Verbrachten viele Tuberkulosekran¬ 
ke befanden. In Abweichung von Krügers Vorstellung, 
daß vornehmlich Kranke ohne nennenswerte familiäre 
Bindung zur Behandlung mit dem Tb-Impfstoff 1:1000 
(vielleicht Tebeprotin) ausgesucht wurden, könnte man 
eher annehmen, daß es solche waren, die man nach 
ihrem Krankheitsverlauf für geeignet hielt. Daß es sich 
wirklich um Tuberkulosekranke handelte, wird aus den 
mitgeteilten Angaben ersichtlich: bei einem der kran¬ 
ken Kinder liegt ein Obduktionsprotokoll nicht vor, bei 
den anderen wurde Tuberkulose festgestellt. Diese kann 
nicht etwa erst Folge der Tuherkulinbehandlung sein, 
da der Impfstoff bazillenfrei ist. 

Daß den Kranken in der Bessau-Klinik und Wittenau 
Ascorbinsäure = Vitamin C in größerer Menge zugeführt 
wurde, kann nicht beanstandet werden. Das damals 
noch höchst wertvolle synthetische Vitamin C wurde 
gern bei Infektionskrankheiten eingesetzt und auf seine 
Wirkung hin erforscht. Es ist für jedermann verträg¬ 
lich, und der Amerikaner Pauling, der diese Verwen¬ 
dung in aller Welt propagierte, erhielt in den 60er 
Jahren dafür den Nobelpreis. 

Noch einige Bemerkungen zu W. Hefter. Es ist ein 


offenes Mißverständnis, ihm vorzuwerfen, daß er ein 
Anhänger "aktiver" Therapie war, wobei der Zusatzaus¬ 
druck "aggressiv" aus der Feder der Autorin stammt. Er 
befand sich vielmehr mit seiner These "Heilung durch 
Krankheit" auf dem Boden einer damals weit verbreite¬ 
ten ärztlichen Richtung. So hatte z.B. u.a. der große 
Chirurg August Bier 1921 eine Arbeit über "Heilentzün¬ 
dung und Heilfieber unter besonderer Berücksichti¬ 
gung der parenteralen Proteinkörpertherapie" 151 veröf¬ 
fentlicht (1921). Einen Überblick kann sich z.B. jeder 
Interessierte durch das Studium des Buches von H. 
Königer 16 ’ über diesen ganzen Komplex verschaffen. 
Wenn Hefter daran dachte, durch Immunisierungsver¬ 
fahren und Fieberkuren auch cerebrale (Gehirn-) Stö¬ 
rungen zu verbessern, so hatte er ein großes Vorbild in 
dem Wiener Psychiater Wagner v. Jauregg, der 1917/18 
die progressive Paralyse durch Superinfektion mit Ma¬ 
lariaerregern so erfolgreich behandelte, daß diese The¬ 
rapie später als ärztliche Pflicht galt. Ohne Zweifel hat 
er eine größere Anzahl solcher Kranker versuchsweise 
behandeln müssen, bevor er zu einem positiven Urteil 
kam. Der Vorwurf, daß Hefter sich bei seinen Bestre¬ 
bungen auch darum bemühte, ein billiges Verfahren zu 
entwickeln, dürfte angesichts der derzeitigen lebhaften 
Auseinandersetzungen um die Senkung der Ausgaben 
für Krankenbehandlung abwegig sein. 

Darin, daß die Luftenzephalographie (Einblasung 
von Luft in die Hirnkammern zwecks Messung elektri¬ 
scher Ströme im Gehirn) eine sehr unangenehme und 
nicht gefahrlose diagnostische Methode war, die mög¬ 
lichst selten, d.h. nur wenn sie unbedingt erforderlich 
war, und unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln 
eingesetzt werden sollte, stimmt der Verfasser mit der 
Autorin überein. Aber es gab zu damaliger Zeit wirklich 
kein anderes Verfahren. Daß Hefter dieses risikoreiche 
Verfahren lediglich zu Forschungszwecken rücksichts¬ 
los bei seinen kleinen Patienten anwandte, ist lediglich 
der Eindruck der Verfasserin. Hätte er es getan, so wäre 
es unentschuldbar. Einiges in den wiedergegebenen 
Krankheitsgeschichten spricht freilich dafür. Leider 
kam es nicht zu einem klärenden Prozeß, und Hefter 
scheint wie viele andere in dem berüchtigten, unter 
sowjetischer Befehlsgewalt stehenden Gefängnis Baut¬ 
zen - Zeugenaussagen zufolge - umgekommen zu sein. 

Zu Martina Krügers Abhandlung wären weitere An¬ 
merkungen zu machen, auch solche, welche den von ihr 
meistbeschuldigten Dr. Hefter betreffen; Verfasser be¬ 
schränkt sich auf die hier vorgebrachten, merkt jedoch 
gleich an, daß ihn die Arbeit insgesamt ansprach, weil 
manche offensichtlich kriminellen Vorgänge dargelegt 
wurden. Wissenschaftlicher Wert kann einer derartigen 
Untersuchung jedoch lediglich dann zugesprochen 
werden, wenn die gebrachten Aussagen hieb- und stich¬ 
fest sind, Sachkenntnis bezeugen und anstelle erforder¬ 
licher und dem Ernst der Dinge angemessener Objekti¬ 
vität nicht allenthalben unbeherrschte Voreingenom¬ 
menheit durchschlagen lassen. 


15) Parenterale Therapie = Ernährungsweise, bei der die Nahrung nicht in den 
Darm gelangt, sondern durch die Körperoberfläche aufgenommen wird. 

16) H. Königer, "Krankenbehandlung durch Umstimmung", Leipzig 1929 


12 


"Deutsche Hepatitisforschung 
im Zweiten Weltkrieg" 

von B. Leyendecker und B. E. Klapp» 


Ergänzung und Kritik 

Befaßt sich eine Abteilung für Psychosomatische 
Medizin und Psychotherapie eines Universitätsklini¬ 
kums (hier: Rudolf-Virchow-Krankenhaus Berlin-Char- 
lottenburg) mit einer Virus-bedingten Infektionskrank¬ 
heit, die per se nur geringe psychosomatische (seelisch¬ 
körperliche) Bezüge aufzuweisen vermag, dann erwar¬ 
tet der aufmerksame Leser eine Darstellung mit Hinter¬ 
grund. Denn ihres Selbstverständnisses wegen sollten 
sich Ärzte dieses Fachbereiches, wenn sie sich in die Me¬ 
dizinhistorie begeben, nicht so sehr mit dem Gegenstand 
"Forschung" als mit den Forschern beschäftigen und 
deren Intentionen — welcher Art diese auch immer sein 
mögen - nachspüren. 

In dieser Hinsicht bleibt die Arbeit, die wir hier zu 
betrachten haben, leider ganz farblos. Sie bringt Äuße¬ 
rungen und Berichte, erwähnt Arbeitserschwerungen, 
die der Luftkrieg damals im zweiten Weltkrieg eben so 
mit sich brachte, würdigt aber in keiner Weise die 
schweren Belastungen von außen und innen, denen 
nicht nur Ärzte und Forscher, sondern alle ausgesetzt 
waren, die zwangsweise den tödlichen Gesetzen eines 
Krieges unterworfen waren. Es ging nicht um die Über¬ 
windung eigener Beschwernisse, sondern für die Ärzte 
auch um möglichste Entlastung anderer in gleicher 
Weise wie sie in ihren Lebenswurzeln schwer Betroffe¬ 
ne. 

Fragt nicht die Tiefenpsychologie zunächst nach dem 
Menschen und dann erst nach den Auswirkungen seines 
Erlebens und Leidens auf Art und Weise seiner Tätig¬ 
keiten? 

Davon nicht einmal der Hauch eines Gedankens in 
der vorliegenden Arbeit; sie erfüllt die in sie gesetzten 
Erwartungen nicht, und Verfasser erlaubt sich deshalb, 
so gut wie noch möglich, wenigstens die Umwelt der 
handelnden Persönlichkeiten zu skizzieren, welche 
Leyendecker und Klapp nur abzuqualifizieren vermö¬ 
gen. 

Hier steht an erster Stelle der Internist Prof. Dr. med. 
Kurt Gutzeit (1893-1957), seit 1934 Direktor der Medi¬ 
zinischen Universtätsklinik in Breslau, ein allgemein 
ärztlich und wissenschaftlich anerkannter Kliniker, ein 
Nachfolger Minkowskis in der großen, weit nach Polen 
und Rußland hineinwirkenden Tradition der damaligen 
schlesischen Landeshauptstadt. Sein Forschungsgebiet 
waren Magen-, Darm-, Verdauungs- und Stoffwechsel¬ 


krankheiten. Jedoch las er auch über natürliche Heil¬ 
weisen. Der nach außen kühl, zurückhaltend, absolut 
sachlich, ganz sicher von wissenschaftlichem Impetus 
erfüllte Mann hatte sich einen Stamm guter Mitarbeiter 
geschaffen, die ihm und der Klinik persönlich anhingen. 
Einer von ihnen übergab die Klinik der sowjetischen 
Besatzungsmacht und ging für 10 Jahre in russische 
Kriegsgefangenschaft, wo Verfasser ihn kennen lernte. 
Er hielt seinen ehemaligen Chef für einen sehr verant¬ 
wortungsbewußten Arzt. 

Bald nach Kriegsbeginn 1939 wurde Gutzeit beraten¬ 
der Internist und zwar beim Heeres-Sanitätsinspekteur 
in Berlin. Die Einrichtung "beratende Ärzte" war kei¬ 
neswegs erst Ergebnis der Neuaufstellung der Deut¬ 
schen Wehrmacht in den 30er Jahren, sondern hatte 
Tradition. Schon im 1. Weltkriege waren praktisch alle 
Ordinarien entsprechenden Alters als "Beratende" in 
ihrem Fachbereich eingesetzt wie z.B. Ludolf v. Krehl 
bei der Armee des deutschen Kronprinzen an der West¬ 
front. Sie überwachten in der Heimat und an den Fron¬ 
ten alle ihr Fach betreffenden Vorkommnisse und waren 
als Sanitätsoffiziere dem leitenden Korps- oder Arme¬ 
earzt unterstellt, dem sie zu berichten hatten, und der 
als Weisungsberechtigter die sich daraus ergebenden 
Anordnungen und Befehle gab. 

Organisatorisch gehörten die beratenden Ärzte in¬ 
nerhalb der Sanitätsinspektion zur Amtsgruppe C der 
"Militärärztlichen Akademie", deren Leiter der Gene¬ 
ralarzt Prof. W. Schreiber war. Diesen befördern die 
Autoren des Artikels, um die Bedeutung der Hepatitis- 
Forschung (Leberkrankheits-Forschung) zu betonen, 
fälschlicherweise zum Präsidenten des mächtigen Reichs¬ 
forschungsrates, welcher dem Reichsmarschall Hermann 
Göring unterstand. Präsident war jedoch Prof. Rudolf 
Mentzel, während Schreiber als Leiter eines Arbeits¬ 
kreises sich lediglich "Bevollmächtigter für Seuchenfra¬ 
gen" nennen konnte. 

Gutzeit als beratender Internist des Sanitäts-Inspek¬ 
teurs im Oberkommando des Heeres war "primus inter 
pares", nicht Vorgesetzter seiner Kollegen bei den 
Armeegruppen, Armeen und ggfs. Armeekorps, in glei- 


17) "Der Wert des Menschen - Medizin in Deutschland 1918- 1945", Katalog 
für die gleichnamige Ausstellung 1990, veranstaltet von der Berliner Ärzte¬ 
kamme r. (kein Herausgeber genannt) Berlin 1990 (Eidilion Hentrich), S. 261 
- 315; dort: B. Leyendecker+B.E. Klapp, "Deutsche Hepatitis Forschung im 
Zweiten Weltkrieg". 




Historische Tals 


13 



Heinrich Himmler bei der Überprüfung der hergerichteten Konzentrat-<Not-)Verpfle- 
gung. Rechts Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck, links SS-Gruppenführer Georg Lörner, Herbst 1943 
in Hochwald bei Rastenburg/Ostpr., dem Feldquartier Heinrich Himmlers 


eher Weise wie die Beratenden der anderen medizini¬ 
schen Fachgebiete. Gegen Ende des Krieges war er 
Generalarzt. An seine wenig umfangreiche Dienststelle 
hatten die Consiliarii der Truppenteile anforderungsge¬ 
mäß Berichte abzuliefern, hier wurden diese zusam¬ 
mengestellt, ausgewertet und zu einer Studie über die 
Gesundheits- und Krankheitssituation des Gesamthee¬ 
res verarbeitet, welche über den Sanitätsinspekteur an 
die oberste Wehrmachtsführung ging. Dem Erfahrungs¬ 
austausch der Beratenden, die ja nur lokale Eindrücke 
gewinnen konnten, dienten Gemeinschaftstagungen und 
Dienstreisen zu den nachgeordneten Einheiten bis hin¬ 
unter zu einzelnen Lazaretten bei besonderen Vorkomm¬ 
nissen. Die wissenschaftliche Bearbeitung führte zur 
Erstellung von Vorschriften und Merkblättern, welche 
einzelne Krankheiten betrafen und für die Sanitätsoffi¬ 
ziere verbindlich waren. 

Ein Großteil der Ordinarien und leitenden Ärzte gro¬ 
ßer Krankenanstalten waren als Beratende oder Laza¬ 
rettchefs militärischerseits voll beansprucht, aber sie 
kümmerten sich während des Krieges, wie aus vielen 
Berichten ersichtlich, .nach Möglichkeit auch weiterhin 
um ihre zivilen Verpflichtungen, die um so drängender 
wurden, je größer der Personalmangel, die Materialien, 
je stärker und je beklemmender die Zerstörung der 
Städte durch Luftangriffe wurde. Hier konnte oft genug 
nur der "alte" Friedenschef noch etwas erreichen und 
richten. Hier zu helfen, gehörte zur allgemeinärztlichen 
Verpflichtung. 

Die Mitgliedschaft zur Partei oder einer ihrer Orga¬ 
nisationen ruhte während der Zugehörigkeit zur Wehr¬ 
macht völlig. Befehl vom 25.5.1940: Während des Krieges 
ruht für alle Angehörigen der Wehrmacht die Mitglied¬ 


schaft in der NSDAP und 
ihren Gliederungen (außer 
SS.). Keine Mitgliedsbeiträ¬ 
ge. 

Soweit der Rahmen; was 
das jeweilige Fachgebiet 
betrifft, so wurde es vielfach 
der Friedenszeit gegenüber 
in geradezu ungeheuerlicher 
Weise ausgeweitet. Beim be¬ 
ratenden Internisten liefen 
sämtliche Mitteilungen ein, 
die innere Krankheiten mit¬ 
telbar und unmittelbar be¬ 
trafen, und es bekamen 
Krankheitskomplexe, die in 
Friedenszeiten keine Rolle 
spielten, entscheidende Be¬ 
deutung für die Einsatzfa- 
higkeit der Soldaten insge¬ 
samt wie auch für die Zivil¬ 
bevölkerung. Man hatte zu¬ 
nächst keine richtigen Ab¬ 
wehrmittel gegen sie und 
mußte sie, die Kriegsseuchen, 
während man Behandlungen 
zu entwickeln versuchte, zu 
gleicher Zeit doch auch schon bekämpfen, sollten sie sich 
nicht allgemein verheerend auswirken. In dieser Hin¬ 
sicht befanden sich alle in den Krieg verwickelten Län¬ 
der in der gleichen Zwangslage. 

Die im Bundesarchiv / Militärarchiv Freiburg i. Br. 
einsehbaren Berichtbestände der beratenden Interni¬ 
sten von den Fronten an Gutzeit, den Beratenden der 
Sanitätsinspektion in Berlin, machen deutlich, mit 
welchen Einzelfragen er sich zu befassen hatte. Wenn 
die Arbeit von Leyendecker / Klapp den Anschein er¬ 
weckt, das Problem Hepatitis habe im Mittelpunkt sei¬ 
ner Tätigkeit gestanden, so ist dies nach dem Gesagten 
zu bestreiten, wenn er ihm als Gastroenterologe (Fach¬ 
arzt für Magen- und Darmkrankheiten) sicherlich auch 
besonderes Interesse entgegengebracht haben dürfte. 
Die massenhaft auftretende infektiöse Gelbsucht mit 
unbekanntem Erreger, gegen welche es, anders als bei 
Malaria, Ruhr, Fleckfieber kein effektives Verhütungs¬ 
oder Behandlungsmittel gab, war nun einmal eine au¬ 
ßerordentliche wissenschaftliche und ärztliche Heraus¬ 
forderung, wenn auch nur eine von vielen. 18 ’ 

Menschenverachtende wissenschaftliche Monoma¬ 
nie war sicherlich nicht das beherrschende Moment bei 
den Hepatitisforschungen Gutzeits und seiner Mitarbei¬ 
ter, welche, wie ich aufzuzeigen versuchte, anderweiti¬ 
ge ärztliche Sorgen ohne Zahl hatten. Dies dürfte auch 
für Prof. Friedrich Meythaler (1898-1967) zutreffen, der 
als beratender Internist der Mittelmeerarmee im grie¬ 
chischen Raume diente. Er befaßte sich mit Hepatitis 
nur zeitweis e, war aber u.a. ein besonderer Kenner der 

18) S. Handloser, "Innere Wehrmedizin", Dresden-Leipzig 1944,S. 465 ff, 

dort:. K. Gutzeit, "Magenkrankheiten". 

19) S. Handloser, aaO., S. 277 ff, dort: F. Meythaler, "Malaria". 


14 


Historische Tatsachen Nr. 55 




Malaria. 1 ® 

Anders als die Genannten sind 

Dr. Hans Voegt (1909 -1974), schon in Friedenszeiten 
Assistent Gutzeits an der Breslauer Klinik und im 
Kriege ihm als Stabsarzt militärisch unterstellt, und 

Dr. Arnold Dohmen, in Friedenszeit am Eppendor- 
fer-Krankenhaus in Hamburg bei dessen Internisten 
Prof. H.H. Berg (1889) als Assistent 1941 habilitiert, im 
Kriege zur Dienststelle Gutzeit kommandiert, als Hepa¬ 
titis-Spezialisten anzusehen; ersterer mehr klinisch, 
der andere vornehmlich experimentell auf Tierversuche 
mit Ausscheidungen u.s.w. von Gelbsuchtkranken spe¬ 
zialisiert. War Voegt einer der ganz wenigen deutschen 
Arzte, welche schon damals Leberblindpunktionen vor¬ 
zunehmen wagten, so Dohmen derjenige, der das spezi¬ 
fische Virus, das nur vermutet wurde, nach Bakteriolo¬ 
genart nachzuweisen versuchte, obgleich Bombenschä¬ 
den seine Versuchsansätze mehrmals vernichteten. 

Gutzeit, Voegt, wahrscheinlich auch Dohmen mach¬ 
ten Selbstversuche mit infektiösem Material von Gelb¬ 
suchtkranken. 

Alle Genannten waren während des Krieges in ein 
allgemeinverbindendes Netz eingespannt, welches der 
Sanitäts-Inspekteur Prof. Siegfried Handloser 1944, wie 
folgt, beschrieb: 201 

"Denken und Handeln der Sanitätsoffiziere müssen in erster 
Linie soldatisch und ärztlich zugleich ausgerichtet sein im Sinne 
einer militärischen Gesundheitsführung, welche die Wehrkraft 
zu erhalten und zu festigen hat." 

Ein, so lange es Heere gibt, wahrscheinlich allgemein 
bejahtes Postulat. 

Dies zur Erhellung des menschlichen Hintergrun¬ 
des, mit dem gerade primär psychologisch denkende 
Arzte sich befassen sollten, wenn sie humanitär an¬ 
spruchsvolle Themen in historisierende Verarbeitung 
nehmen. 

Doch nun von den Hepatitisforschem zur -forschung, 
dem von den Personen abstrahierenden und vorgescho¬ 
benen Gegenstand der Arbeit von Leyendecker / Klapp. 

Das militärärztliche Wissen, das auch dem allge¬ 
meinärztlichen Wissen über infektiöse Gelbsucht ent¬ 
sprochen haben dürfte, ist gegen Ende des Krieges in 
Deutschland denkbar knapp. S. Handloser faßt es zu¬ 
sammen: 

"..... Der Verdacht, daß es sich bei den gehäuften Gelbsucht¬ 
fällen, die auch schon in den ersten beiden Kriegsjahren zur 
Beobachtung gekommen waren, um einen infektiösen Krank¬ 
heitsvorgang handle, konnte sich gegen die bis dahin gültige, 
andersgerichtete Lehrmeinung nur sehr schwer durchsetzen. 
Heute dürfte es so gut wie sicher sein, daß die Hepatitis conta¬ 
giosa eine Infektionskrankheit ist, wenn auch der Erreger und 
der Ansteckungsweg noch nicht bekannt sind. Mit hoher Wahr¬ 
scheinlichkeit kommt als Erreger ein Virus in Frage, das durch 
Tröpfcheninfektion unmittelbar von Mensch zu Mensch übertra¬ 
gen wird. Die Fragen der Inkubation und der Immunität konnten 
weitgehend geklärt werden. Auch wurden Anhaltspunkte für die 
verschiedenen Krankheitsformen sowie Richtlinien für die all¬ 
gemeine und diätische Behandlung und die militär-ärztliche 
Beurteilung herausgegeben ." 2U 

20) S. Handloser, "Innere Wehrmedizin", aaO-, Vorwort V. 

Historische Tatsachen Nr. 56 


Diese leider nur vage Erkenntnis beruht auf zahlrei- 
chenUntersuchungen, von welchenjedoch Leyendecker 
/ Klapp lediglich diejenigenherausgreifen und analysie¬ 
ren, mit denen sich ihrer Überzeugung nach nachweisen 
läßt, daß sie unzulässig waren und gegen jegliches 
ärztliches Ethos verstießen. Und dies waren eben die 
von Gutzeit eingeleiteten, von Meythaler, Voegt und 
Dohmen vorgenommenen Arbeiten, die angeblich ledig¬ 
lich irgendwie verschlüsselt der ärztlichen Öffentlich¬ 
keit bekanntgegeben wurden. Sie hätten in der medizi¬ 
nischen Universitätsklinik Breslau, in Lazaretten oder 
Gefangenenlagern in Griechenland und schließlich im 
Konzentrationslager Sachsenhausen an jüdischen Kin¬ 
dern stattgefunden oder seien für dort mindestens ge¬ 
plant gewesen. 

Für Versuche, die ein Arzt an sich vornimmt, ist er 
lediglich selbst verantwortlich; Versuche an anderen, 
Gesunden und Kranken, unterlagen ihrer Be- resp. 
Verurteilung für die Zeit, von der hier die Rede ist (1940 
- 1944), den Richtlinien, welche mit Rundschreiben des 
Reichsministeriums des Innern vom 28.2.1931 veröf¬ 
fentlicht wurden und die neuartige Heilbehandlungen 
und die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am 
Menschen betrafen. Im vorliegenden Falle kommen fol¬ 
gende Passagen für unsere Beurteilung in Betracht: 

"Punkt 3.): 

Unter wissenschaftlichen Versuchen . sind Eingriffe und 

Behandlungsweisen am Menschen zu verstehen, welche zu For¬ 
schungszwecken vorgenommen werden, ohne der Heilbehand¬ 
lung im einzelnen Falle zu dienen und deren Auswirkungen und 
Erfolge auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht aus¬ 
reichend zu übersehen sind Stets ist sorgfältig zu prüfen und 

abzuwägen, ob die Schaden, die etwa entstehen können, zu dem 
zu erwartenden Nutzen im richtigen Verhältnis stehen. 

Punkt 7.): 

Die ärztliche Ethik verwirft jede Ausnutzung der sozialen 
Notlage für die Vornahme einer neuartigen Heilbehandlung." 

Außerdem wird vermerkt: 

"a.) Die Vornahme eines Versuches ist bei fehlender Einwil¬ 
ligung unter allen Umständen unzulässig.... 

c.) Versuche an Kindern oder jugendlichen Personen unter 
18 Jahren sind unstatthaft, wenn sie das Kind oder den Jugend¬ 
lichen auch nur im geringsten gefährden." 

Damit ist der Rahmen, der eine Beurteilung des 
Verhaltens der genannten Ärzte ermöglichte, vorgege¬ 
ben. Selbst Heinrich Himmler, seit August 1943 Reichs¬ 
minister des Innern, änderte diese Richtlinien nicht ab. 

Verstoßen nun aber die Versuche von Gutzeit und 
Mitarbeitern effektiv gegen diese Richtlinien? Von Le¬ 
yendecker und Klapp bekanntgemachte Schreiben, daß 
Versuche beabsichtigt oder geplant wurden, die keines¬ 
wegs rechtens waren, scheinen dies zu bestätigen. Aber 
weder im Ärzteprozeß in Nürnberg (Dezember 1946 - 
Juli 1947), noch im Sachsenhausen-Prozeß in Nord¬ 
rhein-Westfalen, Mitte der sechziger Jahre, in denen 
über die Hepatitis-Forschung verhandelt wurde, kam es 
zu einer Verurteilung, weil die Beschuldigten (Gutzeit 
war 1957 verstorben) naeh Ansicht der Autoren die 
Verantwortung für die Versuche mit Erfolg auf einen 
21) S. Handloser, "Innere Wehrmedizin", aaO., Einleitung, S. 3. 

15 






Toten hätten abwälzen können, nämlich den Reichsarzt 
SS und Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes Prof. 
Ernst Robert Grawitz, der sich im April 1945 im Keller 
seines Hauses zusammen mit seiner Familie durch 
Abschuß einer Panzerfaust das Leben genommen hatte. 

Darüberhinaus kam es im genannten "Sachsenhau¬ 
sen-Prozeß" nicht nur nicht zu einer Verurteilung, son¬ 
dern sogar zu einer Einstellung des Verfahrens gegen 
Dohmen. 

Dies hindert die beiden Verfasser jedoch nicht, dar¬ 
auf zu beharren, der Arbeitskreis um Gutzeit habe 
gegen die ärztliche Ethik verstoßende Menschenversu¬ 
che vorgenommen. 

Bedauerlicherweise bedienen sie sich dabei eines 
Verfahrens, das wissenschaftlich unseriös anmuten muß, 
weil sie das Gesetz "audiatur et altera pars" gröblich 
verletzen. Sie stützen sich auf die umfangreiche Aussa¬ 
ge des ehemaligen KL. Häftlings in Sachsenhausen 
Bruno Meyer aus Hamburg vom 18.1.1965, in welchem 
er Dr. A. Dohmen schwerstens beschuldigt, teilen aber 
lediglich nebenbei mit, daß Dr. Dohmen seinerseits der 
Staatsanwaltschaft eine 18-seitige Gegenstellungnah¬ 
me übermittelte, woraufhin es nicht zur Anklageerhe¬ 
bung, sondern, sicherlich nicht ohne persönliche Ein¬ 
vernahme des Beschuldigten, zur Verfahrenseinstel¬ 
lung kam. Deren Begründung konnten die Autoren (laut 
Anmerkung 77 ihrer Publikation) für die vorliegende 
Arbeit zwar noch nicht nutzen, aber sie unterstellen 
ohne weiteres die Richtigkeit der Angaben Br. Meyers 
und machen ihn zum Kronzeugen ihrer Hypothese. 
Verfasser kennt leider ebenfalls die Einstellungsverfü¬ 
gung des Gerichtes nicht, vermag aber aus eigenem 
Wissen und späterer erweiterter Erfahrung zur Fakten¬ 
beurteilung Einiges beizutragen. Er wird sich aber le¬ 
diglich zu Meyers Angaben äußern, da die Berichte über 
die angeblichen Versuche in der Klinik an Kriegsgefan¬ 
genen zu wenig substantiell sind, als daß man sie auf 
Rechtswidrigkeit hin prüfen könnte, auch beruhen sie 
lediglich auf Äußerungen resp. Andeutungen der Be¬ 
schuldigten selbst, nicht aber auf solchen der Betroffe¬ 
nen. 

Was Br. Meyer betrifft, so war er, wie in der Publika¬ 
tion zu lesen, von 1941 - Ende 1944 als Schutzhäftling 
Nr. 61179 im KZ. Sachsenhausen (Oranienburg) inhaf¬ 
tiert. Im Sommer 1944 wurde er Blockältester in der 
Krankenbaracke V, einige Monate später auch in Barak - 
ke II, in welcher die aus dem KZ. Auschwitz angeblich 
auf Veranlassung von Dr. Dohmen nach Sachsenhau¬ 
sen überstellten 11 jüdischen Kinder untergebracht 
waren. Um diese hat’te er sich zu kümmern und ihre 
Krankenblätter zu führen. Ende des Jahres wurde i hm 
mitgeteilt, daß er aus dem KL. entlassen und zu einem 
Strafbataillon, d.h. an die Front, versetzt werde. Dies 
bekümmere ihn, gab er Dr. Dohmen zu verstehen, weil 
er sich nicht mehr um diese Kinder kümmern könne. 

Daraus geht deutlich hervor: Meyer gehörte nicht 
zur vegetierendenHäftlingsmasse, war vielmehr "Capo" 
und gehörte, wie man in Kriegsgefangenenlagern zu 
sagen pflegte, zur gehobenen Häftlingslaufbahn mit den 
dazugehörenden Vorrechten und Erleichterungen. 


Der Gutachter wird sich deshalb sofort die Frage zu 
stellen haben, aus welchen Gründen kam Meyer in das 
KL., weshalb nahm er eine besondere Stellung ein und 
weshalb wurde er aus dem Lager zu einer militärischen 
Strafeinheit versetzt, deren meisten Angehörige im Einsatz 
fielen. Es wäre zu eruieren, zu welcher Häftlingskatego¬ 
rie er gehörte, und inwieweit er etwa nach dem Kriege 
noch Einblick in die Dokumente des KZ. Sachsenhau¬ 
sen hatte oder erhielt. Denn sein exzellentes Erinne¬ 
rungsvermögen viele Jahre nach den Geschehnissen - 
der Bericht von ihm kam nach 15-20 Jahren zur Kennt¬ 
nis des Gerichtes — mutet merkwürdig an. Kaum 
vorstellbar ist zudem, daß Meyer, der seinen Dienst bei 
den jüdischen Kindern im Sommer 1944 antrat, wußte 
oder hätte wissen können, daß diese bereits ein Jahr 
zuvor zu "Sonderzwecken" hergebracht worden sein 
sollen; denn der Wechsel innerhalb der Krankenbarac¬ 
ken dürfte, eigenen Erfahrungen zufolge, groß gewesen 
sein. Eine besondere Eignung von Kindern für Hepati¬ 
tisversuche unter Hinweis auf negative oder unbedeu¬ 
tend positive Weil-Felix-Reaktionen (Fleckfieber) zu 
unterstellen, ist abwegig. 

Der Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Berichtes 
verstärkt sich bei Prüfung der Angabe über die Leber¬ 
punktion, welche Dr. Dohmen bei einem der Kinder 
vorgenommen haben soll. 

Meyer beschreibt sie, wie folgt: 

"..... Saul Homfeld mußte seinen Oberkörper entkleiden und 

sich auf den Verbandstisch in der Mitte des Raumes setzen . 

Dr. Dohmen . trat hinter Saul Hornfeld, tastete mit den 

Fingern seinen Rücken ab, setzte die Sonde an und stach tief 
durch die Rückenmuskulatur in die Körperhöhle des Kindes.... 

Da stach der Arzt zum zweiten Male zu . Dann sah ich, wie Dr. 

Dohmen aus der Sondenröhre eine lange Nadel zog und schnell 
ein Reagenzglas unter die Sondenöffnung hielt. Schweres dunk¬ 
les Blut tropfte in das Glas. Auch einige Stückchen Gewebe — 
wohl aus der Leber gerissen - schwemmten mit hinein. Jetzt zog 

der Stabsarzt die Sonde aus dem Rücken des Jungen . und 

drückte schnell einen Tupfer auf die Wunde " 

Es ist wenig verständlich, daß anatomisch vorgebil¬ 
dete Ärzte wie die beiden Autoren bei der Schilderung 
einer Leberpunktion durch die Rückenmuskulatur ei¬ 
nes sitzenden Probanden hindurch nicht stutzten; denn 
eine Blindpunktion, um die es sich hier handelte, wird 
von der rechten mittleren Achsellinie im Zentrum der 
perkutierbaren (mittels Abklopfen ermittelbaren) Le¬ 
berdämpfung unter Lokalanästhesie vorgenommen. So 
gelingt es, mit Hilfe einer Spezialnadel aus der Leber 
einen Zylinder herauszustanzen, der sich zur histologi¬ 
schen Untersuchung eignet. 221 

Daß auch in der Entwicklungszeit dieser Methode 
nicht anders verfahren wurde, dafür spricht Dohmens 
ablehnende Haltung zu dem Verfahren, die er in einem 
Brief (S. 277/278) von Februar 1944 auch damit begrün¬ 
det, daß bei von Dr. Voegt vorgenommenen 17 Leber¬ 
punktionen 2 x Bauchfellreizungen aufgetreten seien, 
was für eine Nadeleinführung von vorne oder von der 
Seite her spricht. 


22) G. Schettler, (Hrsg.) "Innere Medizin”, Stuttgart 1972, Bd. 2. S. 182. 


16 


Historische Tatsachen Nr. 66 









Noch aus einem anderen Grunde ist Meyers Bericht 
anzuzweifeln, vermittelt er doch den Eindruck, als habe 
Dr. Dohmen mehr oder weniger privat in das Konzentra¬ 
tionslager gelangen und sich darin relativ frei bewegen 
können. Den Zutritt zu einem KL. genehmigten ledig¬ 
lich Himmler, Pohl, der Chef der Arbeitsgruppe D 
(Konzentrationslager) des SS-Wirtschaflsverwaltungs- 
hauptamtes, wobei auch die Lagerkommandanten ein 
Wort mitzureden hatten, die die für den jeweiligen Tag 
ausgestellten Ausweise sehr kritisch prüften. Es be¬ 
stand ein ausdrücklicher Befehl Himmlers, wonach es 
selbst einem SS-Führer, so hoch sein Rang auch sein 
mochte, nicht gestattet war, in ein KL hineinzulassen, 
wenn er dort nichts zu tun habe. 23 ’ 

Weder der Reichsarzt SS noch das Ahnenerbe konn¬ 
ten einen Zutritt in ein K.Z. vermitteln, wie des öfteren 
angegeben. 241 Die Befugnis dazu hatten allein die oben 
genannten Stellen, wobei Himmler sich zwar nicht von 
Anfang an, aber doch etwa seit 1943, allein die Genehmi¬ 
gung von Versuchen an Menschen vorbehielt. 

Innerhalb des Lagers konnte sich kein Außenstehen¬ 
der ohne ständige Begleitung durch einen Kommandan¬ 
tur-Angehörigen bewegen; er war niemals unbeobach¬ 
tet. Deshalb ist es unwahrscheinlich, daß Dr. Dohmen 
zu seinen Untersuchungen zwar beim ersten Male in Be¬ 
gleitung des Lagerarztes, die folgenden Male aber im¬ 


mer allein so erscheinen konnte, als käme er zur Visite. 
Daß Dr. Dohmen von sich aus einen Häftlingsarzt zu 
seinem Versuch hinzuziehen konnte, ohne daß ein SS- 
Arzt oder -Dienstgrad zugegen war, scheint ebenfalls 
unwahrscheinlich. 

Daraus ergibt sich die Unglaubwürdigkeit des Be¬ 
richtes von E. Meyer, des maßgeblichen Kronzeugen für 
Leyendecker und Klapp. 

Zusammenfassung 

Leyendecker und Klapp ging es bei ihren Untersu¬ 
chungen über Deutsche Hepatitisforschung im Zweiten 
Weltkrieg offenbar weniger um diese Seuche selbst als 
um den Nachweis, daß maßgebliche deutsche Wissen¬ 
schaftler mit ihren Experimenten an Menschen ernst¬ 
lich gegen die vorgegebenen Grundsätze ärztlicher Ethik 
verstießen. Sie hätten sonst zahlreiche andere engagier¬ 
te Forscher auf diesem Gebiet nicht unberücksichtigt 
gelassen. 

Aber dieser Nachweis wurde nicht erbracht. Es erge¬ 
ben sich vielmehr gravierende Zweifel an der Validität 
ihres Beweismaterials. Das Thema sollte unter Beach¬ 
tung des Grundsatzes "Audiatur et altera pars" völlig 
unvoreingenommen weiterhin diskutiert werden,Es ist 
in jeder Hinsicht bedeutsam genug. 


Cllrich Knödler: "Das Insulinproblem"- 


Diese Persiflage, oder sollte man eher sagen, dieses 
als wissenschaftliche Untersuchung vorgestellte, doch 
mit Gehässigkeit durchtränkte Pamphlet (siehe Über¬ 
schrift) hätte Ulrich Knödler (Geburtsjahr 1948), nie¬ 
dergelassener Internist in Sindelfingen, forschend über 
Alltagsprobleme der Medizin im Dritten Reich, wohl nie 
zu verfassen vermocht, wenn er sich mit dem Untersu¬ 
chungsgegenstand umfassend vertraut gemacht und 
nicht lediglich Literatur-Selektion betrieben hätte. 

Was über das Insulin und über die Behandlung der 
Zuckerkranken in der Kriegs- und Nachkriegszeit zu be¬ 
richten war, wurde nicht nur in den laufenden Publika¬ 
tionen ab 1940-1945 251 , sondern auch später umfassend 
dargestellt und von allen Seiten her in seinen Auswir¬ 
kungen beleuchtet' 

Bei dieser Sachlage wäre es an und für sich nicht 
nötig, sich mit Ulrich Knödler eingehender zu befassen, 
wären seine "Ermittlungen" nicht in einer von der Bun- 
des-Arztekammer unterstüzten Publikation aus jüng- 


23) Brief H.D. Roehrs an Dr. H. Fikentscher vom 25.12.1975 - Archiv Schenck. 

24) Medizinische Well (Ärztliche Wochenschrift), 1973, S. 79, dort: F.K. Beller, 
"Die Geschichte der Willow Woox State School". 

25) E.G. Schenck, "Grundlagen und Vorschriften für die Regelung der Kranken- 
eraähiung im Kriege", Berlin - Wien 1940 - 1942, ca. 150S., Aufl. 1 -4. 

Diese Arbeit wurde jedem Arzt unentgeltlich zur Verfügung gestellt. — Dort 
insb. S. 88 ff.. — Vgl. auch hier S. 22. 


ster Zeit herausgebracht worden. Somit haben wir es mit 
einer bundesweit-offiziellen "Desinformation" zu tun, 
die nicht unwidersprochen bleiben darf. 

Knödler bemüht sich fast Wort um Wort, den Ein¬ 
druck zu erwecken, die deutschen Ärzte, insbesondere 
auch die z.T. international angesehenen deutschen 
Diabetologen hätten es während des 2. Weltkrieges als 
wesentliche Aufgabe angesehen, u.a. auch die Zucker¬ 
kranken derart mißzubehandeln, daß sie möglichst bis 
zu einem ihrer letzten Atemzüge kriegswirtschaftlich 
ausbeutungsfähig blieben oder im Falle, daß sie arbeits¬ 
untauglich waren, zugunsten der Arbeitenden schlech¬ 
ter zu stellen. 

Um Heilbehandlung, um bestmögliche Optimierung 
des Gesundheitszustandes ihrer Kranken ging es den 
Ärzten des Dritten Reiches Ulrich Knödler zufolge nie¬ 
mals. 

Demgegenüber soll betont werden, daß es im Bereich 
der inneren Medizin von Mitte September 1939 an bis 
zum 30. März 1945 keine andere Stoffwechelkrankheit 
gab, mit welcher sachkundige Ärzte sich ständig derart 
eingehend beschäftigten, wie mit den Diabetes millitus 
(Zuckerkrankheit). Es ging um bestmögliche Diät, best¬ 
mögliche Insulinisierung, um Beobachtung von Krank- 


26) Ulrich Knödler, "Das Insulinproblem", in: "Der Wert des Menschen — 
Medizin in Deutschland 1918 - 1945”, Berlin 1989, S. 250 - 260. 


17 


heitsbild und -verlauf zum Besseren oder Schlechteren 
hin unter den unumgänglichen Beanspruchungen und 
Einschränkungen. Im umsichgreifenden Chaos des Jahres 
1944 hieß es schließklich: rette man, wen man kann, und 
helfe, wie nur irgend möglich, den Schwerstgefährdeten. 
Hierfür sprechen zahlreiche Fakten, welche Knödler 
nicht kennt oder nicht bringen will. 

Nur einige davon sollen mitgeteilt werden: 

Knödler stellt Mutmaßungen über die Zahl der Diabe¬ 
tiker an, folgt vagen Hochrechnungen. Doch: Am 15. 

Februar 1941 wurden anläßlich einer Diabetikerzählung 

im gesamten damaligen Deutschen Reich 164.127 Zuk- 
kerkranke im Zivilbereich ermittelt. Die Zählung fußte 
auf der Zahl der ausgegebenen Zulagekarten für D.m. 
und dürfte im Großen und Ganzen zutreffen, da jeder in 
ärztlicher Behandlung stehende Patient gezählt wurde 
und natürlicherweise damals jeder bestrebt war, seine 
Verpflegung aufzustocken. Die Anzahl der Diabetiker 
(im folgenden D.), die im Militärdienst standen, dürfte 
unerheblich gewesen sein, jedoch gab es sie. 

Von der Gesamtheit der D. waren 71.991 männlich 
(m.) 92.072 weiblich (w.). Jünger als 15 Jahre waren 
2.207 (1.197 m.; 1.010 w.); im Alter von 16-50 Jahren 
standen 39.146 (20.567 m„ 18.579 w.) über 51 Jahre 
zählten 122.369 (49.708 m„ 72.661 w.). Unter diesen D. 
befanden sich am 15.2.1941 = 1.644 (674 m., 963 w., 7 
o.Ang.) Juden, die über das ganze Reich verteilt lebten, 
wie die sonstige Gesamtaufgliederung aufzeigt, also von 
vielen Ärzten Lebensmittelzulagen verordnet bekom¬ 
men hatten. Während des Krieges erhielten 40-43% der 
D. Insulin, wobei ab 1938 eine Umstellung von Alt- auf 
Depotinsulin, der Produktion entsprechend vorgesehen 
war, welche - wäre es Frieden geblieben - voraussicht¬ 
lich 1941 abgeschlossen gewesen wäre. Die zweckmäßi¬ 
gere Verabreichung sollte bewirken, daß der Insulinbe¬ 
darf des einzelnen um 20-25% gesenkt werden konnte. 
Im Gesamtdurchschnittt erhielt jeder D. täglich 45 Ein¬ 
heiten (E) mit Schwankungen in den verschiedenen Ärz¬ 
tekammerbezirken zwischen 26 und 66 E. 

Die Insulin-Kontrolle oblag in jedem Staate der Welt 
dem jeweiligen nationalen Insulinkomitee, was eine 
welteinheitliche vergleichende Beurteilung der Präpa¬ 
rate ermöglichte. Die verschiedenen Depot-Insuline wur¬ 
den im Großen und Ganzen als wirkungsgleich beurteilt, 
jedoch bevorzugte man in manchen Ländern gelegent¬ 
lich eine Sorte vor einer anderen. 

Nebenbei nur sei bemerkt, daß Insulin in jener Zeit 
keineswegs in Ampullen in den Handel, wie Knödler 
meint, kam. Man erhielt es, da die Behandlung jeweils 
mit unterschiedlich viel E, also verschiedenen Mengen 
erfolgte, in Glasfläschchen zu 50 ml (Milliliter = 1 ccm), 
die einen Gummistopfen trugen. Durch diesen wurde mit 
der sterilen Nadel hindurchgestoßen und die gewünsch¬ 
te Menge in eine genau graduierte Spritze aufgezogen. 
Das Fläschchen kam in den Kühlschrank, der Inhalt war 
eine Reihe von Tagen haltbar. Dies nur zur Erläuterung. 
Die deutsche Insulinproduktion war bekannt; sie betrug- 
1938: 638,6 Millionen E 
1939: 825,2 Millionen E 
1940: 916,0 Millionen E 


1941: 1.036,6 Millionen E 

1942 : 1.123,7 Millionen E 

1943 : 1.095,8 Millionen E. 

Verfasser bemerkt, daß diese Zahlen richtig sind, 
während Knödler in seinen Ausführungen (siehe Anm. 
41 in seiner Arbeit) Millionen mit Milliarden verwech¬ 
selt. 

Bis Mitte 1944 kam es zu einem Produktionsabfall 
um 20-30%, zum Spätherbst hin dann fast zum völligen 
Erliegen. Anfang 1945 waren alle Reserven, auch die der 
Wehrmacht, aufgebraucht. Hatte bis Anfang 1944 die 
Produktion, wobei Export und Import sich die Waage 
hielten, für den Bedarf ausgereicht, so standen 1944 je 
Kopf statt zuvor 44 E, nur noch 20-22 je Tag zur Verfü¬ 
gung. Jetzt bewährte sich die im April 1942 eingeführte 
Insulinbezugskarte", welche Hamsterkäufe verhinder¬ 
te, aber eine im Rahmen des Erforderlichen stehende 
individuelle Zuteilung garantiert hatte. Sie erleichterte 
den von den Ärztekammern und Ärztlichen Bezirksve¬ 
reinigungen beigezogenen "Beratern in Diabetesfragen" 
nach persönlicher Untersuchung eines jeden D. die 
Entscheidung, ob ihm Priorität in der Weitergewährung 
von Insulin zukäme oder es verringert resp. völlig abge¬ 
setzt wurde. Wurde Letzteres für unbedenklich gehal¬ 
ten, so wurden etwaige negative Auswirkungen der 
Absetzung durch Verbesserung der Lebensmittelzula¬ 
gen nach Möglichkeit verhindert. Entscheidungen sol¬ 
cher Art, gegen welche übrigens seitens der Betroffenen 
Einspruch erhoben werden konnte (2 ärztliche Instan¬ 
zen), machten den vielen beteiligten Ärzten große Sor¬ 
gen. 

Der Bemerkung Knödlers, in unverständlicher Wei¬ 
se seien Krankenanstalten damals vom Insulinbezug 
und damit von der D.-Behandlung ausgeschlossen wor¬ 
den, halte ich entgegen: 

1. ) Zwang zur Behandlung eines jeden D. durch einen 
erfahrenen Diabetologen, 

2. ) die Tatsache, daß die Anstalten sich damals schon 
zunehmend auf bestimmte Krankheiten spezialisiert 
hatten. 

Denke er doch an Rehabilitationsanstalten unter¬ 
schiedlichster Fach- und Unterfachrichtungen! 

Doch soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, 
daß im März 1945, als nirgends mehr Insulin vorhanden 
war, durch eine Schenkung der dänischen Firma Lilly 
von 2 Mill. E. etliche Not gelindet werden konnte. Die 
Hälfte wurde an die Berliner Diabetes-Zentrale gege¬ 
ben, je ein Viertel an die Kliniker G. Katsch in Greifs¬ 
wald für die Diabetiker-Anstalt auf Rügen und an Prof. 
H. Reinwein in Kiel. Andere Wege standen nicht mehr 
offen, Ärzte wurden als Kuriere eingesetzt. 

Vordringlicher als die Insulinversorgung, welche 
lediglich 40% aller D. betraf, war die sachgemäße Rege¬ 
lung ihrer speziellen Diät, was aus verschiedenen Grün¬ 
den nicht einfach war; denn eine an sich in Mangelzei¬ 
ten wünschenswerte einheitliche, d.h. das kranke Indi¬ 
viduum vernachlässigende Diät war bei der Unterschied¬ 
lichkeit der Krankheitsbilder und -Verläufe ärztlich 
kontraindiziert (widersinnig). 

Der große Wiener Kliniker W. Falta, schon seit 1919 


18 


Historische Tatsachen Nr. i 




emeritiert, aber weiterhin führender Diabetologe, des¬ 
sen Stimme gerade im Kriege Gewicht hatte, äußerte: 

ln der Diät können wir nicht schematisieren, sondern müs¬ 
sen individualisieren. Es gibt nicht eine optimale Diät bei 
Diabetes, sondern viele optimale, deren Zusammensetzung von 
dem jeweiligen Ernährungszustände, von der Art des Falles, von 
dem Vorhandensein von Komplikationen und noch vielen ande¬ 
ren Faktoren abhängig ist." 

Verfasser war verantwortlich für die Regelung der 
Krankenernährung im Reichsgebiet von Kriegsanfang 
bis -ende. Die organisatorische Grundlage bildete die 
aus dem Zwang der Not in der 4. Woche nach Kriegsbe- 
giim entstandene Abteilung "Krankenernährung der 
Reichsärztekammer ". Es handelt sich weder um eine 
Partei- noch eine Militär-, sondern um eine rein ärztli¬ 
che Einrichtung mit einem Personal von 2 - 3 Personen. 
Der Leiter - Verfasser - war bis April 1940 vom Heer für 
diese Aufgabe freigestellt worden, und behielt seine Tä¬ 
tigkeit, da sich kein Ersatz für ihn fand, auch bei, als er 


dann zum Ernährungsinspekteur der Waffen-SS und 
später der gesamten Wehrmacht ernannt wurde. Er 
leistete die Arbeit ehrenamtlich und unentgeltlich, hatte 
keine sonstige Funktion in der Reichsgesundheitsfüh¬ 
rung. 

Der Bereich "Krankenernährung im Kriege" betraf 
einerseits die Gesamtmedizin, andererseits die Gesamt¬ 
ernährungssituation des Volkes, erforderte also eine 
enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Reichsmini¬ 
sterien. 

In diesem Komplex war die Zuckerkrankheit ledig¬ 
lich eine von vielen, die eine besondere Ernährungsbe¬ 
handlung erforderte, aber auch ihr wurde die Zuwen¬ 
dung zuteil, die sie verdiente. Man wird kein Wort 
finden, das die Zuckerkranken auch nur im geringsten 
ärztlicherseits diffamierte. Da Ulrich Knödler jedoch in 
opportunistischem Zeitgeisteifer gerade diesen Eindruck 
erweckt, ist eine Erwiderung unter Vorlegung der Fak¬ 
ten unumgänglich. 


7. Stoffroechfelerfranfungen 

a) Diabetes mellitus 

I. Sdjroierigfeiten: 

Einheitliche Richtlinien für bie Seredjnung bet 2 ebensmittel 3 ulagen 
Bei 3udertranfen fdnnen aus ben Derfdjiebenjten ©rünben nicht an¬ 
gegeben roerben, 

1. roeil gerabe bet Siabetifer eine fjöchk 'inbioibuelle (EinftcHung auf 
eine beftimmte Ernährung btaudjt, 

2. roeil ein großer Seil bet 3uderfranfen nod) nicht auf eine richtige 
Siät eingekeilt ift ober abet, wenn eingekeilt, fidj nicht biättteu 
oerhält, b. b- roofil bie ihm gemährten 3 uiagen beanfprucht, fie 
abet nicht 3 roedooll ausnufct, fonbern fie lebiglid) als 3 ufägliche 
(Ernährung betrachtet, 

3. roeil in bet Hr.itefdjaft feibft oetfchiebene «nieten übet bie ge- 
eignetfte (Ernährung bet 3uderfranlen betrieben, 

4. roeil ein Seil bet Seoölferung nicht oerftefit, ba& ein gut ge¬ 
nährter Siabetifer recht erhebliche gelt- unb gieifcfyulagen et- 
hält, roähtenb ein abgemagerter ftranfer ober eine Sd)roangere 
nur «Rähtmittel unb Wlild) jugeteilt erhält. 

H-®t 3 tIiche «Infichten über bie ©tnähtung bes 3uder- 

a) Sie llaffiidje Schule, fugenb auf ben therapeutifetjen ©r- 
fenntntffen bet 2Jor-3nfulinära, erfttebt nach ®öglicf)feit 3ucferfrei- 
heit im Sam unb einen annähernb normalen Slutjucferfpiegcl. Sie in 
bet Wahrung oerabreitfjte ftohlehßbratmenge ift gering, bas ftalorien- 
b«T*3it roirb butch ge» unb Eiroeig gebet», roobei entroeber oiel ©iroei%, 
roenig gett, ober oiel gelt, roenig Eiroeifj oerabreicht roirb. Sie im 
©emüfe enthaltenen ftohlehpbratmengen roerben mit einberechnet. 

b) Sie neuere Schule erftrebt eine größere ©laftisität in ber 
Ernährung, nennt ben Siabetifer „bebingt gefunb“ (ftatfd)), febt bie 
Rrbeitsleiftung als ißofitioum in bie ftohlehobratbilanj. 

©s roirb nicht mehr barauf gefehen, bafj bie ©efamtmenge ber ein¬ 
geführten ftofjlehpbrate oöllig unb ohne 3 u<ferausftf)eibung ausge- 
nuht, fonbetn mehr barauf, bag eine gute ftohlebpbratbilanj enielt 
rotrb (roenn oon 200 g_ 40 g im Sam ausgefcfjieben roerben, fo 
ift bas für ben ftS.-Sausfjalt bes Organismus günftiger, als nenn 
120 eingeführt unb oerbrannt roerben). Sas 3nfulin ift bas roiebtigfte 
Hilfsmittel sur 93erbeiferung ber Sohlehpbratbilanj. Sie ftof)le- 
hgbrate ber ©emüfe roerben nicht mitbereehnet. — Sie 3nfulinroirfung 
auf bie ftohlehpbratbilan? ift abhängig oon ber gett- unb ©iroei'g- 
3 ufuhr. ©leichjeitig hob« 5 «»- unb ©iroeigjufuht oerfefjlechtert, fett¬ 
arme, relatio eiroeigreiche ftoft beffert biefe. 

Seibe Schulen: Ser Siabetifer tttug falorifeh fnapp ernährt 
^roerben, an ber unteren ©ren 3 e bes Sebarfs; etroa 25 (bei arbeitenben 


OTenfthen bis 30) Äal. je kg SoIIgetDicfjt. Ser fette Siabetifer mufeA 
oerfuchen, auf fein Solfgeroicht (fooiel kg roie cm über 1 m) herunter- 
3 ufommen. 3 e kg SoIIgeroicht 0,75—1 g Eiroeij) (tierifches unb pflanj- 
Inhes 3ufammengenommen). 

Siet foll nid)t ber einen ober anberen Schule bas «Bort gerebet 
roerben. Sie oerantroortlidj prüfenben 8 r 3 te follen jebod) barauf hin- 
geroiefen roerben, ba[j fid) eine ocrmcintli^e Ridjtungslofigfeit in ben 
3ulageanträgcn für 3udetfranfe nicht nur aus ber inbioibuellen 23er< 
fchiebenheit ber ftranfen, fonbern auch aus ber ber ältlichen Schulen 
erflärt. ©ine Umftellung auf einheitliche Richtlinien roäre nitf)t'ohneeine 
langroierige, foftfpielige unb im ftrieg überhaupt nicht burchführbare 
Ernährungsumleitung ber Siabetifer möglich. 97ach beiben Verfahren 
arbeiten 3 ahlreid)e erfahrene St 3 te'. 

3‘boch muff betont roerben, bah eine fohlehobrafreidjere Ernährung 
ber 3ucferfranfen, bie bei entfprechenber Einengung ber ge» 3 ufuht 
nicht immer mit einer roefentlichen Erhöhung ber gnfulinäufuhr einher- 
gehen muh, ben ©rforberniffen ber ftriegsernährung eher entfpridjt 
unb besroegen bei ber Weueinftellung oon 3 uderfranfcn beoonuqt 
roerben follte. 

III. Worausfefcungen: 

Sie flr 3 te ber ©enebmigungsftellen müffen, roenn fie bie 3utage- 
anträge für Siabetifer oon oomfierein als berechtigt anerfennen rool- 
len, folgenbe Rnforberungen ftcllen: 

1. Cs mufc ein Siätplan oorgelegt roerben fönnen, ber Rusfunft 
gibt über bie Sagessufuljt an flohlehijbraten in ©ramm 
ober SBeigbroteinheiten. 

(1 2B23E.= 12 g Stärfe = etroa 50 ftal.) 
an gelten in ©ramm, 

an © i ro e i fj in ©ramm unb in gieifdj, Quart, ftäfe. 

2. Sie ©efamttagesmenge ber 3uderausfcheibung im Hrin muß an¬ 
gegeben fein. (Sie Eingabe Iebiglich ber 3 uderfon 3 cntration ohne 
bie Sarnmenge ift oöllig roertlos, unb bie ‘ßrojent 3uder im 
Sam befagen nichts.) — Rsetonförper im S acn ? 

3. bie (ich aus 1 unb 2 ergebenbe ftohIebgbratbiIan 3 . 

4. 33 lut 3 uder; bei SBieberholungsanträgen nicht u n b e b i n g t not- 
roenbig. 

5. ber ©efamtfalorienbebarf aus ©röfje unb Sollgeroidjt. 

6 . bie Sähe ber täglichen ^nfulinbofis. 

Ruf ©ranb biefer Rngaben muh bie Söh* ber 3ulagen an gett, 
gieifch, Quart ober ftäfe ober Eiern errechnet roerben foroie bie 
SJlenge Srot, bie nicht aufgenommen roerben fann unb bafjet als 
Rquioalent für bie anberen 3ulcujen ein 3 U 3 iehen ift. Sie 3udcrfarte 
ift in jebem gall ein 3 ubehalten. 3 ut Surchführung oon Safertagen 
ift gegen 3 u teilung oon Währmitteln eotl. noch eine entfprechenbe 
SJlenge Srot ober HJlehl in Rbsug 3 U bringen (für 100 g Saferfloden 
= 100 g 33rot). 


19 



(Ss fiat jtd) als feßr 3 roedmäßig erroiefen, roenn bie (Beurteilung ber 
todiroere eines Diabetes unb bet notroenbigen 3ulagen für Diabetifer 
f- 3ir ' en ein * ei,Ii « burtf ' Sad,är 3te erfolgt, bie 
«nt.» ® e ^‘i te 6 , e|onbere ®if“5ningen aufroeifen. Die meiften 
tr 3 tefammerii ßaben bereits «erster biefer «rt ßin 3 uge 3 ogen. 

IV. Die Söcßft 3 ulagen: 

« et ß™J id > au , 5 bem ®°fÖ«gefagten, baß bie §öße ber 3ulaqen 
abhängig ifr oon bem ©rab ber ftoßleßpbrattoleram.. Die°S5ße 

bedingen fann babei über biefür bie «nberenftranN 

ßettsgruppen gültiger. §5djftinerte ber (Ricßtlinien bin = 

ausgeßen, unb es eroeift fid) ab unb 3 u aud) notroenbiq 

meljr als brei ber als Zulage in ftrage fommenben 
l6iU9 ' 6 ' n ' ia m 

•JK** lfl "" an 9fnommen roerben, baß felbft bei einem nießt in 
ftationarer Se^anblimg befinblicßen Patienten mit feßr fd)roerer 
3uaerfranfbeit mit einer 

3ulage oon 500 g gieifd) (©efamtmenge bann 1000g) 

:: ;;SSfs| ( - * •»»* >**•*«« 

(ober 500gQuarf)( „ 312 5 g) 

„ oon 5 Eiern 

»'« b « So» fein, Jo wirb btt Dotitnl 
jroedmaßig auf eine ßoßere Jtoßleßgbratmenge eingeftellt. 

Dinfiefifor! J.® e '^m Uer ber “ r, ^*^ en 23eid)einiqungen fann bei 
Diabetifern bis 3 u 6 Monaten betragen. Die fiöcßLit fann ohne 

m -- rben ’ ® enn ber S> ia6 «>« feßort längere 3eit he¬ 
il/ alfrriEtl tf , 6eJ ' i3 ' Unb n,en " bct ««nfe bem 
ci, als 3 UDet la[fig befannt ift. 3n anberen fällen bei neu auf ihr» 

3 roedrnäbia ei bfe e äUDcrlnfficjen Kranfcn, roirb man 

3 roedma6tg bie ©ultigfeitsbauer 3 unätbft auf 3 Monate feftlegen. 

V. Sonftiges: 

mirb für benOTinter imwVulü ?inen Erfaß bes 

oom 28. Oftober 19.0 (®e W3 . IIA 2 -* 

V - e r rr ,m r ° mmenben ®'"‘er insgefamt a^tjefjn 

iern^ri,!.. m i- ef0nf ' rucn au5 9 t 9 eBtn - ®<« 3ufe«Iung auf bie Son- 
5Ä If. lÄ" “ n6 f*J tt - ® ie %b9abt bet *»»1««" «folgt 
Ir L®SCn*„1T ,9S I1' ,ne " ber ® rn “brungsämter. Di. 3 u<ter. 
fteClaffm sVT 6 ' l » anbeInbtn **lt ‘ine Seßßemigung aus- 

fa l ?*4«» b *I«b* «Jt reicht bie 'Bereinigung ber juftänbiqen 

II 3 1 b — 73» ( “ e ' 9lcirf|e meinen ® tla B DOm 30. Oft. 1939, 

mit funcr yilTirnnni 11 * ?'<^ en i^ i9Un9sB * IIe 9 ' 61 bit »»Wemigung 
me ter bl nl t-i (ä 'l " & ' ,ücmortst '') «« b « Ernährungen,! 

oo"-iiffi aus — alfo ohne 6efonberen meiteren 'Antrag bes 
S £ «W,?““’*«»»■»! 00» 1.. Stanloi «total,!. 

0«| St« O„,0)tt«L;nq5lr«, ln i,t Ij„l, 0 l, n , in 2 „ irt 6 , - , 

Ära« ri? 1 “ 111 !! I" 3" S™*WM<Wdm it 

ol S i',S,?£S"‘l. 1 Ä >»" »“»«»»«•»■i" tarn ®nj<IMnbta 
t»A7 , A1- *' , '? 11 : y " «“«" ™ O»i!lo»s 5»t timfl. 

bfttten SSa’ ■»#« leim RMtonjit 

S?»2KV h Vi'i" 1 ”’ ” *” mi l "" S 

Dritten -IWcfinitt biele, (Erfaffes 3 u erteilenben Seiuq unb ©roRberua- 
Jeinen ausäultellen^oruf ben Se,ug, unb ffiroßbetugreinen ift link oben 
in u Quer ,<arbe aiirtubruden ober mit -Blouitift . iu jebreiben. 3n 


•■M r if? U ?. f4ein 3Um ' au5bluif 3“ Gingen, baß „nadj 
9HogIi(f|feit SBeigble^boten" geliefert merben folten. 

Die ©rogbejugfdjeine finb bis jum 28. Dejember 1040 ben §er[teltern 
oorjulegen. 

Der Cinjetbänbler (ebreibt auf ber Quittung, bie er ausgeiteilt bat, bie 
oom $ejugsbere<btigten bejogenen Doien ab. Der Sejugsbereibtigte ift 
nid)t oerpfirtet, bie bejtellten Dofen auf einmal abjunebmen; er foll 
jeboib bie Dojen, fomeit es [id) um S^marsbleibboien banbeit, fpäteitens 
bis jum 24. gebruar 1941 unb, |oroeit es fitb um 2BeiBble<bbo[en banbeit, 
fpäteftens bis jum l.Sßai 1941 abnebmen. 

Den 3uderfranfen fallen, fomeit möglitb, aBeipletbbofen jugeteilt 
toerben. 91aib OTögliibteit iollen aud) ihre SBünfibe auf 3uteilung be= 
[timmter ffiemüieforten berüd[icbtigt roerben. 

3« Orten, in benen eine Ausgabe oon ®emü[elonieroen an bie Se* 
oölferung niibt ftattfinbet, fann bas ffirnäbrungsamt im Senebmen mit 
ber örilid)en Serufsoertretung bes ffiinjelbanbels beftimmen, baß 3udcr- 
franfe bie Semüfetonferoen nur in bejtimmten einjelbanbelsgeftbäften be« 
jieben fönnen. 

«Eine jufäbüibe Ausgabe oon Äonferoen an anbere 
ftrenfe fann ntibt erfolgen. 

SPtalßfaffee ift für ben 3ucferfranfen nit^t f^äblitö unb ^at 
feine ungünftige SBirfung auf ben fto^Ieöobratbausbalt, mie oielfa^ 
behauptet roirb. Die ftot)IeI)!)brate bes ftaffees bleiben im Sobenfa^, 
tm ©etränf felbft finb jtur not^ Spuren enthalten. 

SItarmelabefür Diabetifer fann nur auf bie ÜJlarmelabenfarte 
bc 3 ogen toerben (Mitteilung bes IReidisernäljrungsminifteriunis oom 
lö.gebr. 1940 unb oom 15.Oft. 1940). Die Marmelabenfarte ift bem 
3u<ferfranfen bestoegen nii^t 3 u ent 3 ie^en, jebot^ finb bie 3mfer‘ 
abfdinitte ab 3 utrennen unb auf ben Marmelabenfarten bie SBorte 
„ober 3u<fer" 3 u ftreit^en. 

2Iuf (Reifen fann ber 3utferfranfe, ber an eine ftrenge 3nnc« 
yaltung feiner Diät gebunben ift, in ©aftftätten aud) an fleiftbfreien 
-tagen gleifdj erhalten. 

?Ius bem ©rlafe bes 9l2Jti f. ©. u. 2. ((5efr^3. H/l b —400/40) 
oom 4. dJlär 3 1940. 

(Erleiiftternng für bie Serpflegung 3uderftanfer an fleiftbfreien lagen 
„«us «nlaf) eines Cinjelfalles ift mir oorgetragen toorben, baß bei 
3uderfranfen, bie buriß ißren Seruf oon ihrer ÜBoIjnung ferngehalten 
(J. 35. oielfad) auf «eilen) finb, bie Einhaltung bes oorgefifiriebenen Diät¬ 
planes baburd) erfd)inert mirb, baß fie an fleifthfteien lagen in ©aftftätten 
feine gieifdjgerithte erhalten fännen. Da hei fernerer 3uderfranrheit bie 
genaue Einhaltung bes Diätplanes oon entfdjeibenber Sebeutung fein fann, 
fwbe ich mid) in bielem Einjelfall, unter ber Sorausfeßung, baß bie ju- 
ftänbige ärjtlidje ©enehmigungsftelle unb bas juftänbige Ernäßtungsaint 
bie «otmenbigleit bejahen, bamit einneritanben erflärt, baß ber betreffenbe 
llranfe burtß bas juftänbige Ernährungsamt eine Sefdjeinigung folgenben 
3nhalts erhielt: 

. ‘ n -mirb ßirrmit auf ©runb Ermächtigung bes 

«enhsminifters für Ernährung unb 2anbmirtfd)aft befeßeinigt, baß mit 
«üdfiißt auf bie befonbere «rt feiner ttranlßeit (3udertranfheit) unb 
bie bureß feinen Seruf bebingte häufige «bmefenheit oon feiner «Job- 
nung auch “R fleifcßfreien lagen ^leifchfpeifen gegen «bgabe ber ent- 
fpreeßenben 3I‘ifä)mar(en an ihn abgegeben toerben bürfen. 1 
Dabei habe id) bie «uflage oorgefeßrieben, baß ber ftranfe bort, mo Diät- 
fueßen befteßen, naeß ‘Dtöglidjfeit biefe auffuißt. 

Es befteßen reine Sebcnfen bagegen, baß in gleicßliegenben fjällen oon 
ben Ernaßrungsämtem in gleicher JBeife oerfaßren mirb. Die «usnaßiiien 
finb mbeifen auf roirtlicß bringlidje gälle ju befeßränfen. Die ÜBirtfißafts. 
gruppe ©aftftätten- unb Seßerbergungsgemerbe ßabe id) unterrichtet. 1 ' 
SnfuHn [teßt aus inlänbifcßer Erjeugung in ßinreießenber Menge 
'cm " et f Ö9l f n 9> i‘ b ocß foll es nur in bem unbebingt notroenbigen 
Maße unb in erftcr fiinie für 3u<I«ftanfe oerroenbet roerben. Mit 
«usnaßnte ber Seberf^ußbeßanblung Jollen 3nfulinmaftfuren unb bie 
3n|u!inf<ßodtßerapie möglicßft burd) anbere «erfaßten erfeßt roerben. 
3m Saufe ber 3eit finb ferner bie Diabetifer naeß Möglicßfeit auf bie 
mobernen unb anerfannten Depotinfuline (Surpßen-, «rotamin*3inf-, 
Stcfio>3nfuIin) um 3 ujtellen, ba babureß eine ^nfulinerfpatnis bis 3 u 
Vj bes ©efamtoerbraucßs erhielt roerben fann. 


Daß auch in Sonderfällen speziell an die D. gedacht 
wurde, bezeugen weitere Regelungen, die z.B. die Ver¬ 
sorgung mit Malzkaffee (Bohnenkaffee gab es sowieso 
nicht) oder die Verpflegung der D. in Gaststätten, auf 


Reisen oder an fleischfreien Tagen betrafen. 25 » 

Wie schwierig es war, die genannte Zulagenregelung 
bis zum Kriegsende beizubehalten und die unterschied- 


20 



liehen, z.T. auf den Kriegserfahrungen beruhenden 
einschränkenden Vorschläge im Expertenkreise der Dia- 
betdlogen so auszugleichen, daß möglichst allen Fach¬ 
leuten und auch Diabeteskranken Gerechtigkeit wider¬ 
fuhr, mögen nachfolgende Ausführungen vermitteln 
124a 271 

Mengenmäßig machen die Zulagen für Diabetiker 
wohl mit am meisten aus. Wir müssen dieser Erkran¬ 
kung deshalb besondere Aufmerksamkeit schenken, da 
die Diabetiker im Ausgleich für den Verzicht auf Zucker 
und Brot = Fleisch und Fett zusätzlich erhielten - auch 
wenn sie wohlgenährt erschienen und deshalb der Beob¬ 
achtung der Nachbarn in besonderem Maße ausgesetzt 
waren. 

Auch die Prüfarzte sind von dieser kritischen Ein¬ 
stellung den Diabetikern gegenüber nicht frei und kürz¬ 
ten häufig die verlangten Zulagen, was einen sorgfältig 
ausbalancierten Diätplan natürlich vollkommen um- 
werfen kann. Andererseits habe ich oft genug gesehen, 

\ daß lediglich der Nachweis von Zucker im Harn Grund 

genug war, die höchstmöglichen Zulagen zu beantragen. 

I Die Prüfärzte sind bei Diabetikern also in einer beson¬ 

ders schwierigen Lage. Sie sollen einem anerkannten 
Diabetesbehandler gegenüber Vertrauen haben, jedoch 
von diesem verlangen, daß er Zulagen wirklich nur in 
der notwendigen Höhe beantragt und das alte, klassi¬ 
sche Gebot beachtet, daß der Diabetiker kalorisch (kalo¬ 
rienmäßig) knapp ernährt werden soll. 

Unstatthaft ist die Forderung einzelner Prüfer, daß 
der Zuckerkranke zur Einsparung der Fleisch- und Fett¬ 
zulagen mit Insulin behandelt werden solle. Auch die In¬ 
sulinbehandlung muß durch Art und Schwere des Dia¬ 
betes begründet sein; sie ist nicht ohne Weiteres beim 
Diabetes als solchem angezeigt. Abgesehen davon steht 
uns ja auch Insulin nicht in beliebiger Menge zur Verfü¬ 
gung. 281 

1944 29 ' 

In den letzten Monaten des Krieges wurde nun auf 
Grund der Erfahrungen der vorangegangenen Jahre 
von klinischer Seite Stellung zu verschiedenen Fragen 
der Ernährungsbehandlung genommen: 

"Nonnenbruch und Falta, ebenso Wolff betonen, daß es bei 
Diabetikern in der Mehrzahl der Fälle möglich sei, ohne Erhö¬ 
hung der Insulindosen auf eine Diät einzustellen, welche den Zi¬ 
vilversorgungssätzen entspricht. Infolgedessen soll die Gewäh¬ 
rung von Fett- und Fleischzulagen in der bisherigen Höhe nicht 
mehr erforderlich sein. Auf diesem Standpunkt stand seit Beginn 
des Krieges bereits Kötschau, während andere Kliniker (Urner, 
Grafe) diefestgelegten Zülagemengen zunächst nicht als ausrei¬ 
chend ansahen, auf Grund der Erfahrungen sich aber doch zu 
ihnen bekannten. Einen vermittelnden Standpunkt nahmen u.a. 
Bürger, Greiff, Grote, Katsch ein, die dazu neigten, unter mög¬ 
lichster Erweiterung der Kohlehydrattoleranz die Fett- und 
Eiweißzulagen an der untersten möglichen Grenze zu halten. 


27) "Die Krankenernährung im Kriege, Ziel und Weg", 1940, Heft 6 (allgemeine 
Grundlagen) 

28) "Krankenernährung im Kriege", Heft 10 der Schriftenreihe der Reichsarbeits- 
gemeinsdiaft für Volksernährung, Leipzig 1941, S. 28 ff. 

29) Deutsche medizinische Wochenschrift, Berlin 1944, S. 68, dort: EG. 
Schenck, "Diaetetik im Kriege". 


Nach den vorliegenden Mitteilungen scheint erwiesen, daß 
die meisten Diabetiker auf eine eiweiß- und fettärmere Kost 
umgestellt werden können, und es erhebt sich die Frage, ob 
daraufhin die für Diabetiker vorgesehenen Zulagen gekürzt oder 
gestrichen werden sollten. Diese Maßnahme würde vorausset¬ 
zen, daß alle in Frage kommenden Diabetiker klinisch auf die 
neue Diät umgestellt werden müßten, was zur Zeit nicht durch¬ 
führbar ist, - sie würde auch eine nicht voraussehbare Verände¬ 
rung des Insulinbedarfs bewirken. - 

Diese Gründe veranlassen uns nach eingehenden Bespre¬ 
chungen zu der Stellungnahme: Die Zulagen für Diabetiker 
werden einstweilen bis zur Beibringung eines größeren Tatsa¬ 
chenmaterials nicht geändert. Jedoch wird erwartet, daß die 
Höchstzulagenmengen, die wie alle entsprechenden Zulagen im 
Laufe derZeit aus Höchst- zu Normalzulagen wurden, bei allen 
Diabetikern nun auch wirklich als Höchstzulagen angesehen, 
d.h. nur bei solchen Kranken gewährt werden, die sie nachweis¬ 
lich benötigen; das werden, wie unsere Erfahrungen zeigen, 
gewöhnlich nur sehr schwere Diabetesfälle sein. Weisungen zu 
besonders kritischer Prüfung der beantragten Zulagen ergehen 
an die Prüfstellen der Ärztekammern mit dem besonderen Hin¬ 
weis, nach Möglichkeit besondere Diabeteskenner als Berater 
heranzuziehen. Überschreitungen der Sätze erscheinen nicht 
mehr erforderlich ." 

Die, wie zugegeben werden muß, z.T. mühevollen 
Diskussionen mit maßgeblichen und führenden Diabe¬ 
tologen, denen Einsicht in die Gesamternährungssitua¬ 
tion des Volkes im Allgemeinen und die Insulinschwie¬ 
rigkeiten im Besonderen fehlen mußte, weil sie ja in 
ihren Kliniken überbeansprucht waren, führten in kei¬ 
nem mir erinnerlichen Falle zu ernsthaften Gegensät¬ 
zen, vielmehr zu Kompromißbemühungen. 

Ihr Ergebnis ist folgende Erklärung aus dem Jahre 1944 
(Schenck 1944): 

"Grundsätze für die Erhaltungskost 
der Diabetiker im Kriege 

Kalorienzufuhr: In Höhe der Ration der entsprechenden 
Alters- und Leistungsgruppe mit einem Zuschlag von 10 bis 
höchstens 30% entsprechend der Schwere des Zustandes und der 
bleibenden Glykosurie (30 - 35 Cal/Kg) (Kalorien/Körpergc- 
wicht). 

Eiweißzufuhr: 0,7 - l,0g/Kg: niedriger bei übergewichtigen 
Kranken und bei Greisen; Zufuhr über 1,0-1,75 gfiir jugendli¬ 
che Diabetiker und solche, die infolge einer Sekundärerkran¬ 
kung (meist Lungentuberkulose) einen höheren Eiweißbedarf 
haben, ferner auch bei Schwer- und Schwerstarbeitem. 

h ettzufuhr: 0,7-0,9g/Kg. Größere Mengen bei Sekundärer- 
krankungen (Tbc., Thyreotoxikose). Eine zufettreiche Diät führt 
zu einer Herabsetzung der Ansprechbarkeit auf Insulin; die 
regulativen Vorgänge können durch fett- und eiweißreiche Kost 
gestört werden. (Banse, Bartelheimer). 

Kohlenhydratzufuhr: in der zur Abdeckung des noch beste¬ 
henden kalorischen Defizits erforderliche Höhe: 4-5 g/Kg. 

Bei stärkerer Insulinverknappung und einer infolge von 
Insulinkürzungen verringerten Kohlehydrat-Toleranz zunächst 
Steigerung der Eiweiß-, bei sehr starkem Absinken auch der 
Fettzufuhr. 

Die Kriegserfahrungen an alten Menschen ergaben, daß 
diese mit größeren Fettmengen besser zu erhalten sind, als mit 


Hiitorwche Tatsachen Nr. 56 

21 



größeren Kohlehydratmengen; darum wird man bei alten Men¬ 
schenjenseits des 60. Lebensjahres Fett gegenüber Kohlenhy¬ 
drat bevorzugen. 

Diabetiker in reduziertem Ernährungszustand werden zweck¬ 
mäßig mit Kohlenhydrat-reicher Ernährung und entsprechend 
gesteigerter Insulindosierung zunächst in das Kohlenhydrat- 
Gleichgewicht und sodann in einen möglichst geringen Eiwei߬ 
umsatz gebracht. Nach Stabilisierung des Stoffwechsels Aufbau 
von Organeiweiß durch vermehrte Eiweißzufuhr, die sich dem 
Eiweißumsatz anzupassen hat. 

Adipöse (fettleibige) Diabetike mit einer Minimum-Ernäh¬ 
rung versorgen. 

Die Einstellung der Diabetiker soll "lebensecht" erfolgen, 
Arbeitsleistungen und Arbeitszeiten berücksichtigen: Nachtar¬ 
beiter, Wechsel von Tag- und Nachtschichten." 

Als es mit dem Zusammenbruch der Insulinproduk¬ 
tion unmöglich wurde, die Insulinabhängigen D. in glei¬ 
cher Weise zu versorgen wie noch 1943, wurden die ver¬ 
antwortlichen Ärzte vor eine schreckliche Aufgabe ge¬ 
stellt, nämlich die, die Dinge entweder laufen zu lassen 
und die Tür zur brutalen Selbstbesorgung nach dem 
Motto zu öffnen: "Besorge sich, wer noch kann" . oder 
aber den voraussehbaren Schaden möglichst zu begren¬ 
zen. Letzteres erforderte eine sehr individuelle Betreu¬ 
ung der einzelnen Kranken, weshalb die Errichtung 
"Ärztliche Berater in Diabetesfragen” forciert wurde. 
Eine Aufzählung der Maßnahmen, die bis in den März 
1945 hinein ergriffen wurden, um Unmögliches möglich 
zu machen, würde zu weitfiihren. Deshalb sei auf das Li¬ 
teraturverzeichnis verwiesen. 

Die deutschen Diabetologen befanden sich nicht, wie 
Knödler unterstellt, in dieser Lage außerhalb der Tradi¬ 
tion und der international anerkannten Lehrmeinung; 
er möge sich hierüber etwa bei E.P. Joslin, L. Lichwitz, 
S. Thannhauser u.a. unterrichten. Es ist jedenfalls un¬ 
angebracht, jene deutsche Diabetologen verdächtig oder 
lächerlich zu machen, die im Kriege wirklich um das 
Wohl ihrer Patienten rangen und die verschiedensten 
Hilfsmöglichkeiten prüf¬ 
ten. Der verdienstvolle G. 

Katsch, der die Stadt 
Greifswald bei Kriegsen¬ 
de vor Zerstörung be¬ 
wahrte, war in den 30er 
Jahren der erste, der eine 
Anstalt zur lebensechten, 
lebensgerechten Einstel¬ 
lung der Zuckerkranken 
gründete und damit ei¬ 
nen Prototyp für die erst 
3 Jahrzehnte später ge¬ 
gen mannigfache Wider¬ 
stände eingerichteten Re¬ 
habilitationskliniken u.a. 
schuf. Ihm "nazistischen 
Sinneswandel" vorzuwer¬ 
fen, da er Zuckerkranke 
zunächst "bedingt krank", 
dann "bedingt gesund" 


nannte, ist abstrus und nichts Gegensätzliches. Mit letz¬ 
terem Ausdruck machte er Mut, richtete seelisch auf, 
nahm Angst, mit ersterem warnte er die Kranken und 
ihre Umgebung vor Überbeanspruchung und falscher 
Lebensführung. F. Umber, Vorsitzender des Deutschen 
Insulinkomitees, war deshalb kein Diabetespapst, son¬ 
dern bedeutender Kliniker. 

Und Verfasser, den Ulrich Knödler zwecks Verun¬ 
glimpfung in seiner militärischen, vom zivilen Sektor 
völlig getrennten Dienststellung vorstellt, "kam schlie߬ 
lichgar auf den Gedanken, dort Insulin einzusparen, wo 
es für die Kriegswirtschaft am leichtesten zu verschmer¬ 
zen war." Deshalb sollte für "die über 50-Jährigen" die 
Insulinzuteilung reduziert werden. 

Nun, auf diesen Gedanken kam er ganz und gar 
nicht; vielmehr konnte er sich auf umfangreiche Erfah¬ 
rungen in Deutschland und anderen europäischen 
Ländern stützen. Daß im Rahmen letzter verbliebener 
Möglichkeiten hilfsentsprechend gehandelt wurde, wird 
wohl auch daraus ersichtlich, daß in der Nachkriegszeit 
bis 1950, als der Mangel noch größer wurde als 1944/45, 
und die "Naziideologie" sicherlich keine Rolle mehr 
spielte, weiterhin nach den Richtlinien und Regeln 
verfahren wurde und werden mußte, die in der Kriegs¬ 
zeit erarbeitet worden waren (H. Bertram, H.A Hein¬ 
sen). 

Hätte man nur im entferntesten an "Aussonderung 
und Tod - Die klinische Hinrichtung der Unbrauchba¬ 
ren" gedacht, so hätte man sicherlich nicht immer wie¬ 
der betont, daß die Insulindosis bei den unter 15 Jahre 
alten Kindern, die die Gruppe der schwerstkranken 
Diabetiker bildeten, auch 1944/45 nicht gekürzt werden 
dürfe; gleiches galt auch für die tuberkulösen Zucker¬ 
kranken. 

Der Wert der zuckerkranken Menschen wurde kei¬ 
neswegs von den Ärzten, die sie während der Jahre 
1939-1945 verantwortlich zu versorgen und zu behan¬ 
deln hatten, in Frage gestellt! 



Au( einem deutschen Hauptverbandsplatz In Rußland. Die Ärzte waren ständig überforden. 
Der Gegner dort achtete das Rote Kreuz ebensowenig wie 
die westlichen Luftgangster über den deutschen Städten. 



Überblick über damalige diesbezügliche Publikationen 


Schenck, E.G. "Grundlagen und Vorschriften für die Regelung der 
Krankenemährung im Kriege", Berlin - Wien 1940, Auflg. 1 - 4 ca. 150 
S. - Jedem Arzt seitens der Reichsärztekammer ex officio unentgelt¬ 
lich zur Verfügung gestellt. 

"Die Krankenemährung im Kriege Ziel und Weg" = Schriftenreihe 
der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksemährung - Leipzig, 1940 
Heft 6. (allgemeine Grundlagen) 

Schriftenreihe Die Reichsgesundheitsführung 
"Leitfaden für die Truppenemährung und -Verpflegung" 
"Krankenemährung im Kriege", Heft 10, Leipzig 1941,S.28u.f.f. 
"Erhaltung leicht verderblicher Nahrungsmittel”, Berlin 1942 
"Allgemeine und ärztliche Indikationen für die Gewährung von 
Nahrungsmittelzulagen für Kranke", Deutsches Ärzteblatt, 1943, S. 50 
- 60 (Neuere Erfahrungen und Richtlinien) 

"Zur Frage der Sonder- und Konzentratverpflegung der Waffen- 
SS” 

"Diätetik im Kriege" in Deutsche medizinische Wochenschrift, 
1944, S. 68 u. f.f. (Diskussion über Emährungsprobleme) 


"Richtlinien für die Überprüfung der Insulinbedürftigkeit der 
Zuckerkranken", Rundschreiben Reichsärztekammer vom 30.6.1944. 

"Merkblatt für Zuckerkranke", Sommer 1944 (an sämtliche Ärzte 
zur Weitergabe) 

Schenck, E.G. (Hrsg.), "Praktische Ergebnisse der Diabetesfor¬ 
schung im Kriege" in: "Theorie, Geschichte und Praxis der Ernährungs¬ 
behandlung". Stuttgart 1945, Bd. 3. (Der gesamte korrigierte Drucksatz 
des Buches mit Beiträgen zahlreicher Diabetologen wurde bei einem 
Bombenangriff vernichtet.) 

"Ärztliche und organisatorische Maßnahmen zur rationellen Be¬ 
handlung der Diabetiker und zur Einsparung von Insulin", Deutsches 
Ärzteblatt 1945 Heft 1/2. (letzte erschienene Ausgabe) 

Nachtrag hierzu vom 20.3.1945 ein Rundschreiben (nur noch in 
Berlin verbreitet.) 

"Erfahrungen mit der Behandlung der Zuckerkranken im Kriege", 
19.3.1945. 


Chronisch Kranke -- 
nicht behandlungswürdig? 


Das Büchlein "Medizin im Dritten Reich", herausge¬ 
geben von der Bundesärztekammer und der Kassen¬ 
ärztlichen Bundesvereinigung, schließt mit Fridolf Kud- 
liens "Bilanz und Ausblick". Wie bei zahlreichen Dar¬ 
stellungen im genannten Buch wäre auch in diesem Ab¬ 
schlußkapitel vieles richtigzustellen. Hier soll jedoch 
nur zu einem Problem Stellung genommen werden, über 
das Verfasser dank eigenen Mitwirkens Bescheid weiß: 
die Behandlung der chronisch Kranken während der 
Kriegsjahre. 

Kudlien meint, man solle, soweit noch möglich, Pa- 
tienten-Erfahrungen aus dem "Dritten Reich" in genü¬ 
gender Breite sammeln und interpretierend auswerten. 
Ein besonderes Interesse würden dabei die chronisch 
Kranken, also dauerhaft funktionsgeschwächte Men¬ 
schen (beispielsweise Fälle von schwerem Rheuma, schwe¬ 
rem Diabetes) verdienen. Nach den "rigiden Vorstellun¬ 
gen und Forderungen jenes totalen Staates und der rigi¬ 
desten Form von NS-Alltags-Medizin, der sogenannten 
Neuen Deutschen Heilkunde" hätten solche Krankhei¬ 
ten ja eigentlich, zumal in Kriegszeiten, gar keine ärzt¬ 
liche Behandlung verdient gehabt (" Gesundheit ist Pflicht, 
Krankheit ist Pflichtvergessenheit"). 

Wie sah es in der damaligen Lebenswirklichkeit mit 
ihnen aus? 

Diese Frage kann, was die Allgemeinbehandlung 
und ärztlichmedikamentöse Versorgung der chronisch 


Kranken betrifft, beantwortet werden, ohne daß man 
Patientenaussagen über die damalige Zeit zu sammeln 
braucht. Selbst der interpretationsfreudigste Forscher 
unserer Tage wäre wohl außerstande, ein Bündel per¬ 
sönlicher Schilderungen über weit zurückliegende 
Epochen zu einer Aussage von wissenschaftlichem Wert 
zu verdichten. 

Der Weg zur Erkenntnis ist wesentlich einfacher und 
wissenschaftlich sicherer; man muß nichts anderes tun, 
als sich Publikationen aus den Kriegsjahren vorneh¬ 
men, welche die Regelungen und Vorschriften u.a. auch 
zur Versorgung der chronisch Kranken enthalten und 
für Ärzte wie Kranke verbindlich waren. 

Verbindlichkeit besagt: 

a) behandelnde Ärzte übten in bestimmten Berei¬ 
chen, wie z.B. der Krankenernährung, ihren Patienten 
gegenüber eine Hoheitsfunktion aus, 

b) Kranke konnten gegen ihrer Meinung nach un¬ 
richtige Verordnungen Beschwerde erheben und eine 
Überprüfung durch eine übergeordnete Stelle verlan¬ 
gen, was immer wieder geschah. 

Sie waren also keineswegs ärztlichen Verordnungen 
rechtlos unterworfen und ihrer persönlichen Mitwir¬ 
kung an der Wiederherstellung ihrer Gesundheit be¬ 
raubt. 

Einen Zeitzeugen, der während des Krieges auf zahl¬ 
reichen Gebieten als Arzt praktisch, organisatorisch 


23 





und wissenschaftlich hatte tätig werden müssen, wun¬ 
dert: die überwiegende Anzahl der Medizinhistoriker 
die den Anspruch erheben, das Gesundheits- und Sani¬ 
tätswesen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts durch¬ 
torstet zu haben, behandeln die meisten Komplexe der 
Medizin zur Zeit des Dritten Reiches entweder nicht 
oder nur wenige und diese noch selektiv - "interpretato- 
nsch , d.h. faktenunabhängig - in einer Deutschland 
diffamierenden Weise. Pflichtübung auch für Medizin- 
histonker in dem freie(ste)n deutschen Staat, um akzep¬ 
tiert und gedruckt zu werden? 

Fndolf Kudlien diskriminiert die deutsche Ärzte¬ 
schaft insgesamt. Bei der erforderlichen Entgegnung 
empfiehlt es sich, wie auch er es tut, von den chronischen 
Krankheiten auszugehen. Diese erscheinen mir deshalb 
besonders geeignet, weil es sich bei deren Behandlung 
nicht lediglich um Medikamentenverabreichung han¬ 
delt welche ein NS-Mediziner, ohne sich auffällig zu 
machen, klamm-heimlich hätte einstellen können, son- 
dern um weit mehr, nämlich um ärztliche Einwirkung 
auf die Lebensgestaltung anvertrauter und sich dem 
Arzt anvertrauender Menschen. 

Das Beispiel Zuckerkrankheit ist besonders treffend 
weil der Arzt bei der Einstellung eines Diabetikers auf 
einen optimalen Zustand höchst individuell zu verfah- 
ren und gleichsam zugleich mit 3 Besserungsmöglich¬ 
keiten (Ernährung, körperliche Leistung, Medikament) 
zu jongheren hat, wobei auch regionale Gegebenheiten 
(in Königsberg andere als in Wien) zu berücksichtigen 
waren und sogar im Kriege berücksichtigt worden sind 
Unablässiger Einwirkung war kein Ende gesetzt; der 
ständig mit Kriegswidrigkeiten kämpfende Patient mußte 
bei der Stange gehalten werden, wobei die Situation in 
dem Maße schwieriger, schließlich verzweifelter wurde 
wie sich die Versorgungslage zum Schlechten wandte 
und Nahrungsmittel und Insulin nicht mehr allgemein 
ausreichend zur Verfügung standen. Die ärztlich-orga¬ 
nisatorischen Bemühungen, zu retten, was zu retten 
war, liefen nachweislich bis zum 30. März 1945. 

Vor diesem Hintergrund sei Fridolf Kudlien mit 
nachdrücklichem Ernst entgegengehalten: 

Daß Zuckerkrankheit, rheumatische Erkrankungen 
oder etwa die Basedowsche Krankheit, Infektionskrank¬ 
heiten (wie Tuberkulose, Scharlach, Diphterie) Niere¬ 
nentzündungen, Leber- und Gallenleiden Ergebnis von 
Pflichtvergessenheit der Erkrankten seien, lag als ab¬ 
strus außerhalb der Vorstellungswelt damals tätiger 
Arzte. Eine "rigideNS-Alltagsmedizin", welche Kranke 
und Arzte trennte, wurde wohl einige Male von an der 

Menschlichkeit vorbeiagitierenden Funktionären gefor¬ 
dert, die z.T. nicht den Äsculapstab trugen, setzte sich 
aber nicht durch. Blickt man auf die Medien, so findet 
man auch heutzutage Postulate recht ähnlicher Art und 
aus verschiedenen Ecken. 

Mir sind die Euthanasiemaßnahmen, die während 
des Krieges in Heil- und Pflegeanstalten durchgeführt 
worden sind und die ausschließlich auf die Kriegsbedin- 
^ngen denon sich Deutschland ausgesetzt sah, zu- 
ruckzufuhren waren, bekannt. Ich persönlich halte sie 
für Verbrechen. Diese kritische Beurteilungsweise gibt 


mir indessen das Recht darauf hinzuweisen: 

1J In den Friedensjahren von 1933 - 1939 hatte sich 
im Dritten Reich trotz Rassenbewußtsein und Pflege 
eugemscher Gesichtspunkte ein Euthanasiethema nicht 
gestellt. 

2.) Eine NS-Alltags- und Allerärzte-Medizin der Art, 
daß der Arzt zunächst zum Hakenkreuz auf- und danach 
zu seinem Patienten hinabschaute, gab es ebensowenig 
wie eine machtvolle "Neue Deutsche Heilkunde" Dies 
war vielmehr eine nach dem Modell "Deutsche Physik" 
geprägte, inhaltslose Sprechblase, die seit Kriegsbeginn 
nicht mehr gebraucht wurde und keinesfalls zum allge¬ 
mein ärztlichen Wortgut gehörte. 

Nun zum Beweis der Irrealität Kudlien'scher Unter¬ 
stellungen und zu den Fakten, welche auf Nationalso¬ 
zialismus und Medizin spezialisierte Historiker zu über¬ 
sehen belieben: 

Bereits zum 1. April 1940 erschien eine seitens der 
Reichsärztekammer an sämtliche Ärzte im Reich ko¬ 
stenlos verteilte Broschüre: 

"Grundlagen und Vorschriften für die Krankener¬ 
nährung im Kriege". Sie faßte die im ersten Kriegshalb- 
jahr aHerorten an tausenden von Fällen gesammelten 
Erfahrungen und mit dem Reichsernährungsministe¬ 
num verfahrensmäßig getroffenen und als Erlasse her¬ 
ausgegebenen Vereinbarungen, was die Ernährung der 
Kranken betraf, flächendeckend zusammen. Sie trug 
verbindlichen Charakter und erwies sich als dringend 
notwendig; denn bis gegen Weihnachen 1939 waren 
schon etwa 5 Millionen Anträge auf Lebensmittelzu- 
wendungen für Kranke gestellt und von freiwilligen 
Prüfarzten neben ihrer Praxis bearbeitet worden. Die 
Schnft erreichte bis 1942 vier Auflagen, später erfolgte 
die Anpassung an die Allgemeinsituation durch Veröf¬ 
fentlichungen im Deutschen Ärzteblatt. 

Man mag unterstellen, daß es sich bei diesen Vor¬ 
schriften eher um diktatorische als ärztlich begründete 
Maßnahmen handelte; dies trifft nicht zu, da alle Rege¬ 
lungen nach Absprache mit erfahrensten Ärzten und 
Wissenschaftlern unter Berücksichtigung der jeweili¬ 
gen Versorgungslage getroffen wurden, und sich z B 
Diabetologen als Berater weniger erfahrener Ärzte zur 
Verfügung stellten. Sämtliche Kranke, so war es ärztli¬ 
ches Grundgesetz, sollten ernährungsmäßig gleich ver¬ 
sorgt werden. 

Kudlien unterstellt, man habe chronisch Kranke als 
pflichtvergessene Selbstschädiger "im medizinischen NS- 
Alltag" nicht berücksichtigt und nicht wie erforderlich 
behandelt. Wie abwegig dieser hier zum Ausdruck ge¬ 
brachte Unfug ist, belegt die auf S. 19 - 20 wiedergege¬ 
bene Dokumentation. 

Als unverfänglicher Zeuge, der vom 3. Reich nur 
Ungutes zu erwarten hatte, worauf seines Schutzes 
wegen an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden 
soll, möchte ich den Internisten Dr. A.E. Lampe aus 
München zu Worte kommen lassen: 30 ' 


30) Jahreskurse für ärztliche Fortbildung, München, Heft 8, August 1941: "Die 
Ddusche Rundschau" 


24 






kranke, die man heute unter dem Begriff Typ I. Diabetes 
zusammenfaßt und die zur Lebenserhaltung auf Insulin 
angewiesen sind. Wäre es in Angleichung an das mörde¬ 
rische Verfahren bei Lebensunwerten und Lebensun¬ 
tauglichen in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten 
nicht auch für die "rigide NS-Alltagsmdezin" selbstver¬ 
ständlich gewesen, damals bei den jugendlichen Diabe¬ 
tikern das für andere so dringend benötigte Insulin ein¬ 
zusparen und sie — es handelte sich um mindestens 
2.500 Jungen und Mädchen — ihrem Schicksal zu über¬ 
lassen? 

Im Sommer 1944 wurde an alle Diabetiker ein 
"Merkblatt für Zuckerkranke" verteilt, mit dem sie über 
die Schwierigkeiten bei der Insulinversorgung unter¬ 
richtet wurden, um ihnen verständlich zu machen, daß 
sie vielleicht nicht mehr ihre bisherige Insulin-Dosis 
erhalten könnten, was durch entsprechende Lebensmit¬ 
telzulagen ausgeglichen werden würde. In diesem Merk¬ 
blatt steht nun — und danach wurde ärztlicherseits 
verfahren: 

a ) Kinder bis zum 15. Lebensjahr dürfen nicht oder nur 
nach entsprechender Umstellung in einem Krankenhaus im 
Insulin gekürzt werden, da es sich bei ihnen durchweg um 
schwere Fälle handelt . 

b.) In der Altersstufe zwischen 15 und 50 Jahren stehen 
knapp 25% aller Zuckerkranken und im Durchschnitt mehr 
Männer als Frauen. Die Männer sind mehr gefährdet, und im 
allgemeinen sind die jüngeren Diabetiker dieser Gruppe schwe¬ 
rer krank . Hier muß besonders individualisiert werden . 

N icht vergessen darf werden, daß die Hausfrau heule ebenfalls 
eine körperlich und geistig anstrengende Arbeit zu leisten hat 
und entsprechend berücksichtigt werden muß, besonders wenn 
sie etwa außerdem noch berufstätig ist..... " 331 

Man möge bei dieser Darstellung bedenken, daß die 
unter schwierigsten Kriegsverhältnissen durchgehalte¬ 
ne Versorgung der Diabetiker in gleicher Weise und mit 
gleichen Begründungen bis in das Jahr 1950 hinein 
beibehalten wurde, und daß die heutige Diätbehand¬ 
lung lediglich zeitgemäß, aber nicht grundsätzlich an¬ 
ders ausgerichtet ist. 341 

So umfassend sorgfältig wie der Zuckerkranke brauch¬ 
te der Rheumakranke, bei dem andere Methoden der 
Heilbehandlung vordringlicher sind, ernährungsmäßig 
nicht beachtet zu werden. Jedoch dachte man auch an 
ihn: 


6. Getenkcrkrinknngen 

Kranke mit »kufem Gelenkrheumatismus werden nach Abkltnnen 
der Erscheinungen wie „Rekonvaleszenten" behandelt. 

. K ' anl ' e "]it Arthrosis deformans, primär chronischer Polyarthri- 
t.s rheumatica deformierenden Gelenkerkrankungen kSnnen 
bei Betroflensein nur weniger Gelenke Zulagen nicht erhalten, heim 
Pefallenseui vieler und großer Gelenke, erheblicher oder hoch¬ 
gradiger Abmagerung und gleichzeitiger Systematischer Behand¬ 
lung kann verfahren werden entsprechend „Unterernährung". 


Jede auszehrende Krankheit wurde entspre¬ 
chend der wissenschaftlichen Lehrmeinung er¬ 
nährungsmäßig gewürdigt: 

33) Deutsches Ärzteblatt, Berlin 1945, Heft 2 

34) Internist, April 1990: "Weiterbildung Diabetes melliter”. 


ß) Thyreotovlkose, Morbus Basedowtl 
Zulagen: 750 g Nährmittel, 3*/il Vollmilch, bis zu 250g Fett, 
500 g Brot, 5 Eier 

gegen Abgabe der ganzen oder Halben Fleischkarte. 
Gültigkeitsdauer: 12 Wochen. 

k--- / 

Natürlich gibt es Krankheiten, bei deren Erwerb 
Sorglosigkeit und damit im strengsten Sinne des Kud- 
lien-Wortes Pflichtvergessenheit eine Rolle spielt. Die 
ausgiebige Diskussion der AIDS-Krankheit in unseren 
Tagen liefert ein lehrreiches Beispiel, da Konsequenzen 
ähnlich wie damals gefordert werden. 

Für die damalige Zeit könnte man in dieser Hinsicht 
die Tuberkulose anführen. Sie beruht ja auf Ansteckung 
durch einen anderen von außen her. Zahlreiche Fürsor¬ 
ge-, Tbc-Beratungsstellen und Schriften verbreiteten 
Kenntnisse über Schutzmöglichkeiten, Gefahrenquel¬ 
len usw.. 

Laut Kudliens Vorstellung vom medizinischen "n.s.- 
Alltag" hätten die Tuberkulösen wegen ihres Verstoßes 
gegen die Gesundheitspflicht ärztliche Behandlung nicht 
verdient, und er möchte untersucht wissen, wie dies in 
der Praxis ausgesehen habe. 

Nun, in den Unterlagen, die seinerzeit offiziell her¬ 
ausgegeben worden waren, ist an keiner Stelle die Rede 
von Eigenschuld an der Krankheit und von einzuschrän¬ 
kender Versorgung, sondern im Gegenteil - entspre¬ 
chend den bis zur Mitte unseres Jahrhunderts herr¬ 
schenden Lehrmeinungen — von zu verordnender Ruhe 
und reichlicher Verpflegung. So wurden die Tuberkulo¬ 
se-Heilstätten mit Ernährungszulagen wesentlich bes¬ 
sergestellt als alle sonstigen Krankenhäuser. Die in 
häuslicher Pflege befindlichen Lungenkranken und ins¬ 
besondere auch die diabetischen unter ihnen erhielten 
die höchsten Nahrungsmittelzulagen für die längsten 
Zeiten, die insgesamt gewährt wurden. Hierzu heißt es 
im Erlaß des RMEuL vom 4.3.1940, der gemeinschaft¬ 
lich mit der Reichsärztekammer erarbeitet worden war: 

"Bei Tuberkulose, Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), Al¬ 
terserscheinungen (nicht bei akuten Erkrankungen alter Leute), 
sonstigen Krankheitszuständen, bei denen mit Rücksicht auf die 
Art und lange Dauer der Krankheit (z.B. bei Folgen von schwe¬ 
ren Verletzungen aus dem Weltkrieg, dauernder Beeinträchti¬ 
gung der Körperfunktionen durch schwere Operationen, unheil¬ 
barchronische Erkrankungen) eine Besserung nicht zu erwarten 
ist, kann die Bescheinigung der ärztlichen Genehmigungsstelle 
auf eine längere Zeit, höchstens jedoch bis zu 6 Monaten, bei 
Personen über 70 Jahre bis zu einem Jahr erstreckt werden, 
wenn der ärztliche Befund es rechtfertigt." 

Dies geschah, um entstehende Unbequemlichkeiten 
und Kosten zu verringern. 


Historische Tals 


i Nr. 55 


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Die "Plantage" im Konzentrationslager Dachau 
-- ein Spielplatz für Mörder? 


In den Berichten über das "Vorzeige-KZ" Dachau, 
welches ungezählten deutschen Prominenten und aus¬ 
ländischen Ehrengästen wenigstens bis 1939 demon¬ 
striert wurde, spielte die "Plantage”, d.h. die außerhalb 
des Lagers am Rande des Dachauer Moores in der 
Gemarkung Prittelbach gelegene Anlage von Heil-, 
Gewürz- und Farbpflanzen eine beachtliche Rolle. Sie 
war 1937 auf besonderen Wunsch des Landwirtes Hein¬ 
rich Himmler entstanden, der - so Oswald Pohl 1941 - 
trotz politischer Arbeit, trotz Büro und Bürokratie seine 
bäuerliche Wesensgrundlage nicht verloren hatte, in 
der Absicht, "Schutzlagerhäftlingen Gelegenheit zu geben, 
sich in freier Natur nützlich zu machen und zu betäti¬ 
gen". 3 ® 

Ratgeber Himmlers bei der Anlage waren der be¬ 
kannte Gartenarchitekt und Anhänger der biologisch¬ 
dynamischen Anbauweise Alwin Seifert und ein Wün¬ 
schelrutengänger mit Professorenrang, der die Eignung 
des Geländes für den gewünschten Anbauzweck bestä¬ 
tigte. Während des Krieges ging dann die Organisation 
des Anbaus und der Drogenverarbeitung in andere 
Hände über. Aus einer Schau- wurde eine Fabrikations¬ 
anlage. 

Verständlicherweise finden sich in den zahlreichen 
Häftlingsberichten über die Plantage keine substan¬ 
tiell-fachlichen Mitteilungen, sondern vornehmlich 
Äußerungen über dortige Erlebnisse. Bei deren Analyse 
stellt sich freilich heraus, daß sie nur selten von Augen¬ 
zeugen selbst stammen, sondern auf Erzählungen aus 2. 
und 3. Hand beruhen. 

Da aber gerade fachliche Daten zur Beurteilung des 
in der Plantage Geschehenen wesentlich sind, möchte 
ich im folgenden über einen Vortrag des Leiters der 
Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpfle¬ 
gung berichten, der diese Voraussetzungen erfüllt und 
sonst wohl kaum noch greifbar sein dürfte. 3 ® 

Dem Vortrag zufolge wurde 1938 außerhalb der La¬ 
gerumzäunung mit der Kultivierung von 7,5 ha Moorbo¬ 
den begonnen, wozu ein Gärtner (SS-Mann) und 10 
Häftlinge benötigt wurden. Die eigentlichen Kulturen 
wurden aber erst im Frühsommer 1939 angelegt. Jedoch 
sistierten die Arbeiten seit Kriegsbeginn, da militäri¬ 
sche Maßnahmen die Verlegung der Häftlinge fiir Monate 
in andere Lager erforderlich machten. Die Arbeit wurde 
erst im Frühjahr 1940, und nunmehr in größerem Umfang 
wieder aufgen ommen. Da die Nachfrage nach Gewürz- 

35) Oswald Pohl, Geleitwort zu dem rein fachlichen Buch von K.O. Bäcker/R. 

Lucaß, "Der Kräutergarten'', Berlin, o.J. (1940). 

36) Vogel, "Die Anlagen der Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Ver¬ 
pflegung in: "Die Vitaminversorgung der Truppe", Arbeitstagung von 
Reichsgesundheitsführung, Heer und Waffen-SS am 30.9.1942 ich Dachau 
- Schrift nur für den Dienstgebrauch. 


und Teekräutern sowie Gemüse (für den Lagerbedarf 
selbst) rapide stieg und sich neue Aufgaben stellten. 

Die Anfang 1942 erreichte Anbaufläche von 11,25 ha 
wurde eingeteilt in: 2 ha für Lehrkulturen mit ca 1.000 
verschiedenen Heil-, Gewürz- und Teepflanzen; 0,75 ha 
für das Reichsortenregister (im offiziellen Auftrag), 4 ha 
für die Aufzucht von Jungpflanzen, davon 3 für Gladio¬ 
len, 1 ha Bienenweide, 0,5 ha Farbpflanzen, 3 ha Kom¬ 
postierungsfläche. Dazu kam die Gemüsegärtnerei für 
den Bedarf von Lager- und Wachmannschaften. 15.000 
Sträucher schwarzer Johannisbeeren grenzten die ein¬ 
zelnen Flächen von einander ab. Bis Ende 1942 entstan¬ 
den ferner 6 Gewächshäuser, 1.500 Treibhausfenster, 
Trocknungsanlagen (4-Band-Trockner) und eine Ge¬ 
würzmühle. 

Während 1938 10 Häftlinge, 1939 kaum welche in 
den Kulturen gearbeitet hatten, waren es 1942 täglich 
etwa 1.000. Von diesen waren ca. 40% körperlich wenig 
beansprucht, da sie im Büro, im Zeichenatelier, in den 
Gewächshäusern oder der Fabrikation - 5-10 Mann im 
Forschungslabor des Instituts für Heilpflanzenkunde 
-- tätig waren. 

Auf diesem Gelände arbeiteten mit den Gefangenen 
zusammen 1938 = 1, 1942 aber 57 Zivilangestellte, die 
mit der SS nichts zu tun hatten (kaufmännische Ange¬ 
stellte, Techniker). Außer dem SS-Führer, der die Anla¬ 
ge leitete, und wenigen seiner Mitarbeiter hatte kein 
Angehöriger der Wachmannschaften Zutritt. 

Das Ganze entwickelte sich schnell zum Erwerbsun- 
temehmen, das Sämereien und Setzlinge im freien Handel 
verkaufte. Die Preisliste von 1942 enthält 406 Positio¬ 
nen. Im Atelier wurden Pflanzenaquarelle angefertigt, 
u.a. ein Sammelband zum 40. Geburtstag von Himmler. 
Übrigens wurde durchgesetzt, daß jeder der 5 oder 6 dort 
beschäftigten Künstler seine Bilder signieren durfte. 

Das sogenannte "Prittelbacher Pfeffergewürz", Er¬ 
satz für den zur Mangelware werdenden echten Pfeffer, 
war eine Komposition des kurz vor dem Kriege aus den 
USA zurückgekehrten homöopathischen (nicht akade¬ 
mischen) Arztes Reinhart, eines honorigen Mannes, der 
m.W. sein Rezept unentgeltlich zur Verfügung gestellt 
hat. 

Ab 1941 wurden auch Produktionen von kriegswich¬ 
tigen Pflanzenstoffen begonnen und bis 1944 ausgewei¬ 
tet, die den - ungefährlichen, ja ihnen z.T. Vorteile brin¬ 
genden Einsatz von Häftlingen in etwa rechtfertigten. 
Es drohte nämlich ein zunehmender Mangel an Vitamin 
C (Ascorbinsäure), besonders bei der Feldtruppe mit 
ihrem nach damaligem Wissensstände erhöhten Be¬ 
darf. 

Die großen pharmazeutischen Fabriken Merck/Hoff- 


Himtoriachc Tatsachen Nr. 56 

27 


mann / La. Roche, die den Jahresbedarf von ca 200 T für 
das Heer mit synthetischem Vitamin hätten decken 
sollen, wurden durch Luftangriffe immer wieder stillge¬ 
legt und blieben weit hinter dem Soll zurück. Man mußte 
auf das aus Pflanzen zu gewinnende Vitamin zurück¬ 
greifen und die entsprechende Erzeugung ankurbeln. 

Die Hauptbenutzer einigten sich: Die Reichsgesund¬ 
heitsführung wandte sich der Hagebutte, das Heer der 
Sanddornbeere und die Waffen-SS der Gladiole zu, 
nachdem Versuche, Vitamin C aus Gras zu gewinnen’ 
gescheitert waren. Die Waffen-SS war im Vergleich 
gesehen hierbei am erfolgreichsten, da nach umfangrei¬ 
chen Vorversuchen aus dem Preßsaft bestimmter Gla¬ 
diolensorten ein Pulver mit hohem (ca 10%) und stabi¬ 
lem Vitamingehalt gewonnen wurde. Es spielte dann bei 
der Truppenverpflegung eine beträchtliche Rolle. 371 

Unter Ausklammerung dieser Verhältnisse vermerkt 
W. Wuttke-Groneberg beispielhaft für viele andere Nach¬ 
kriegsliteraten: 


"Bis 1940 war dieses Kommando eines der schlimmsten im 
KL Dachau. Die Jahre 1938,1939 und 1940 waren die Aufbau- 
jahre. 429 mußten ihr Leben lassen. Die Plantage fraß ihre 
Opfer. Kein Kommando in Dachau in diesen Jahren kostete 
solche Opfer. Daraus ist die Härte ersichtlich. 

Für 2 Gruppen war dieses Kommando ein Todeskommando: 
Für die Zigeuner und die Juden. Sie waren hier bei der Fron 
erschossen, mit Gewehrkolben erschlagen oder zu Tode geprü¬ 
gelt worden oder auch an der Schubkarre zusammengebrochen. 
Jedes Stück Boden war besudelt mit dem Blute geschlagener und 
erschlagener Häftlinge. ~ Die Häftlinge konnten später errei¬ 
chen, daß die Plantage das begehrteste Kommando wurde und 
ein Stützpunkt des Widerstandes. " 38 > 

Gegen diesen und andere Berichte sind erhebliche 
Zweifel angebracht. Generell wurden die Zigeuner erst 
1942 auf Befehl des Reichssicherheitsdienstes verhaf¬ 
tet. Sie können also nicht schon bis 1940 in der Dachauer 
Plantage gearbeitet haben. Außerdem ist es unwahr¬ 
scheinlich, daß 1939 dort Mordaktionen stattgefunden 
haben, da die Arbeit eingestellt war. Pfarrer Goldschnitt, 
ein weiterer Augenzeuge, war laut Bischof Neuhäusler 
erst am 16.12.1942 nach Dachau gekommen 39 ', konnte 
also von angeblichen Greueln nur aus Gesprächen, nicht 
aus eigenem Erleben Kenntnis haben. 

Nun ist aber Lagerüberlieferung selten ernst zu 
nehmen, wie ich aus eigener 10-jähriger Gulag-Erfah¬ 
rung sehr genau weiß. 


Richtig dagegen ist Wuttke-Gronebergs Bemerkung, 
daß die Plantage später - d.h. wohl ab 1941/1942 ~ ein 
höchst begehrter Arbeitsplatz und Zentrale des lagerin¬ 
ternen Widerstandes wurden 

Am 21.4.1 1942 befahl Hi mm l er, daß alle inhaftierten 
deutschen, holländischen und norwegischen Geistlichen 
in den Heilkräuterkulturen einzusetzen wären. Polni¬ 
sche und litauische Geistliche kamen nicht in den Ge¬ 
nuß dieses Privilegs (als solches war es gedacht) und 
konnten zu a llen Arbeiten herangezogen werden. In 

37) Vortrag Tr. Friedrich, ' Vitamin C Gewinnung aus Gladiolen' in schon 
genannter Schrift, "Die Vitamin Versorgung der Truppe", 1942. 

38) W. Wuttke-Groneberg, ” Medizin im Nationalsozialismus - ein Arbeits¬ 
buch", WUrmlingen 1982, S. 191 - 192. 

39) Josef Neuhäusler. "Wie war das im KZ DachauT, München 1960. 


allmählich lagerinterner Aufweichung der Berufsgren¬ 
zen kam es dazu, daß sich die "Intelligenzia" unter den 
dort Arbeitenden anreicherte, und auch zahlreiche poli¬ 
tische Häftlinge sich mit Heil-, Duft- und Gewürzpflan¬ 
zen beschäftigten. 

Aufenthalt innerhalb eines Lagers war lediglich den 
Angehörigen der Kommandantur (Schutzhaftoffiziere, 
solche der politischen Abteilung, des Arbeitseinsatzes, 
des Sanitätsdienstes und während der Zählungen dem 
diensthabenden Offizier nebst Gehilfen) gestattet. 

In der KZ-Literatur wird sachwidrig jeder Wachpo¬ 
sten als Verbrecher hingestellt. Dies ist allein schon 
deshalb unglaubwürdig, weil während des Krieges die 
Masse der Wachmannschaften aus nicht mehr kriegs¬ 
verwendungsfähigen, älteren Männern bestand. 

Bei den Inspektionen, welche ich 1943/44 vorzuneh¬ 
men hatte, traf ich immer wieder auf schwerkriegsver- 
letzte, nicht mehr fronttaugliche Soldaten aus Heer, 
Luftwaffe und Waffen-SS, alte Landsturmmänner, die 
zu KZ-Wachmannschaften, großenteils gegen ihren Willen 
versetzt worden waren. Hochangesehene Frontoffizie¬ 
re, Schwerversehrte Ärzte beklagten sich bitter über 
eine solche Verwendung. Ich halte es für meine Pflicht, 
hierauf zu verweisen und zur Rechtfertigung Verfehm- 
ter beizutragen. 

Graf Schwerin v. Krosigk 40 ', aber selbst amerikani¬ 
sche Richter 41 ’ verwiesen darauf, daß es bei dem Da¬ 
chauer Massenprozeß keine spezifischen Anklagen gegen 
einzelne Personen gegeben habe, sondern lediglich sum¬ 
marische Beschuldigungen, die sich auf Aussagen von 
meineidigen Berufsbelastungszeugen stützten und die 
mittels brutalster Folterungen in "Geständnisse" um¬ 
funktioniert wurden. Diese Methoden sind zwar später 
offenkundig geworden, was jedoch nicht zu einer Reha¬ 
bilitierung der Beschuldigten und Revidierung der schau¬ 
erlichen Geschichten geführt hat. 

Einer meiner engsten Mitarbeiter in München von 
1939 bis 1945, der Arzt und Apotheker Dr. med. B., 
wurde mit Kriegsbeginn als Referent für Heilpflanzen¬ 
kunde in der Reichsführung SS verpflichtet und hatte 
deshalb neben seiner umfangreichen klinischen Tätig¬ 
keit häufig die Plantage in Dachau zu visitieren und mit 
den dort tätigen Wissenschaftlern unter den Häftlingen 
zu konferieren. Konkret auf die Beschuldigungen ange¬ 
sprochen antwortete er mir, daß er von Mißhandlungen 
nichts weiß, er hingegen den Eindruck hatte, daß die 
Häftlinge froh waren, in den Kulturen arbeiten zu 
dürfen. 

Besonders engen Kontakt zu vielen Häftlingen der 
Plantage hatte Gartenmeister R. Lucaß, Freund aus der 
Heidelberger Zeit, mit dem zusammen ich 1934 die un¬ 
abhängige "Arbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkun¬ 
de an der Medizinischen Klinik" gegründet hatte. 1939 
zum Referenten für Heil- und Gewürzpflanzen in der 
RFSS verpflichtet, organisierte er den gesamten Anbau 
in den Dachauer Anlagen, wie es die Kriegsbedürfnisse 
erforderten. Er weilte noch dort, als die US-Truppen vor 

40) L. Schwerin v. Krosigk, "Die großen Schauprozesse", München 1981. S. 394 
-395. 

41) Vgl. Dr. Pinter in HT Nr. 43, S. 20 ff. 


28 


HUlorüehr Tatsachen Nr.; 


den Lagertoren standen. Nach kurzer Gefangenschaft 
wurde er wieder freigelassen, da sich viele Häftlinge für 
ihn eingesetzt haben. Er, überzeugter Christ und Predi¬ 
ger in einer freien Kirche, hätte, wenn er von grausa¬ 
mem Geschehen gewußt hätte, sofort Alarm geschlagen 
und mir davon Mitteilung gemacht. 

Die wichtigste Zeugin dürfte jedoch eine der 57 Zivil- 
Angestellten, die Apothekerin Traute Friedrich sein, die 
in den Dachauer Plantagen seit 1938 ihren Arbeitsplatz, 
jedoch nichts mit Partei oder SS zu tun hatte. Sie war es, 
die die Gladiolenforschung in Gang gesetzt und betrie¬ 
ben hat. Ihr ständiger Aufenthalt in der Plantage brach¬ 
te sie in Kontakt mit vielen Häftlingen. Nach Kriegsen¬ 
de heiratete sie einen von ihnen, den ehemaligen Capo 
Dr. Hilbert, später Generaldirektor der Wiener Staats¬ 
theater. Die ebenfalls in Dachau inhaftiert gewesenen 
österreichischen Politiker Gorbach, Figl und Raab er¬ 


nannten sogar Frau Hilbert-Friedrich wegen ihrer 
Verdienste um die Häftlinge zur Regierungsrätin im 
Landwirtschaftsministerium. Dort erwarb sie sich in 
der Folgezeit internationale Anerkennng. Einige ihrer 
späteren Publikationen erinnern an die Dachauer Zeit. 
431 Auch in offenen Gesprächen mit mir während des 
Krieges und danach hat sie nie von Exzessen der Wach¬ 
mannschaften berichtet. 

Diese drei glaubwürdigen und sachlich denkenden 
Menschen, die weder zu den Häftlingen, noch zur SS- 
Lagerhierarchie gehörten, aber von 1938 - 1945 einen 
sehr genauen Einblick in die Verhältnisse der Plantage 
von Dachau hatten, wußten nichts von dortigen Mi߬ 
handlungen oder gar Morden. Wir dürfen daher sicher 
sein, daß die Angaben von W. Wuttke-Groneberg und 
anderer Zeugen nicht der Wahrheit und Wirklichkeit 
entsprechen. 


Wurde bei Ernährungsversuchen im KZ Mauthausen der Tod 
von Häftlingen billigend in Kauf genommen? 


Das amerikanische Militärtribunal III sprach im 
Prozeß gegen das SS-Wirtschafts- und Verwaltungs¬ 
hauptamt am 3.11.1947 dessen Leiter, SS-Obergrup- 
penführer Oswald Pohl, nur in einem Punkte frei: 

Das Gericht erkennt, daß die Emährungsversuche, an denen 
Pohl stark interessiert war, die Verwendung von Gift nicht 
einschlossen, sondern lediglich erlaubte Versuche über den 
Nährwert von Nahrungsmitteln darstellten. Als solche trugen sie 
selbstverständlich keinen verbrecherischen Charakter. "42) 
Aber im Prozeß waren jene Emährungsversuche, die 
von Beginn des Jahres 1943 bis zum Sommer 1944 an 
Hunderten von Häftlingen im KZ Mauthausen vorge¬ 
nommen worden waren, nicht Verhandlungsgegenstand. 
Der Mauthausen-Häftling und kommunistische Funk¬ 
tionär Hans Marsalek hat jedoch diese Emährungsver¬ 
suche im Auftrag des Mauthausen-Komitees des Bun¬ 
desverbandes der österreichischen KZ-ler zum Anlaß 
genommen, um zu berichten: 

"Vom 1. Dezember 1943 bis zum 31. Juli 1944 wurden unter 
der Kontrolle namhafter deutscher Ärzte sogenannte Emäh¬ 
rungsversuche mit Häftlingen durchgeßhrt. Die hierfür be¬ 
stimmten Häftlinge wurden in 3 »Ernährungsgruppen« einge¬ 
teilt und auf Block 16 isoliert, mußten jedoch während der 
ganzen Dauer der Versuche Schwerstarbeit im Steinbruch ver¬ 
richten. 

Die erte, die sogenannte »Ostkost gruppe «, umfaßte 150 
Häftlinge, die 2. und 3. »Hefekost- und Normalkostgruppe« -je 
110 Häftlinge (Belgier, Deutsche, Franzosen, Italiener, Jugo- 

42) Protokolle des Prozesses gegen den Leiter des SS-Wimchafts-Verwaltungs- 
Hauptamtes (Pohl-Prozeß) vor dem US-Militärgerichtshof III in Nürnberg 
vom 8.4. - 22.9.1947, Urteilsverkündung 3.11.1947; Protokolle in 23 Bänden 
= 8..096 Seiten, davon 30 Bände Dokumente und Unterlagen, kein Aktenzei¬ 
chen, nicht veröffentlicht. Verhandlungsprotokoll Bd. 23, S. 7.983. 


Slawen, Polen, Russen, Spanier und Tschechen), die herangezo¬ 
gen wurden. 

Die Ernährung der »Ostkostgruppe« bestand 8 Monate lang 
nur aus einer breiartigen Masse aus Schrot und Stroh. Während 
der Versuchsdauer wurden jedem einzelnen Häftling insgesamt 
417 x Blut abgezapft. Von den 150 Häftlingen dieser Gruppe 
waren am 31. Juli 1944 nur mehr 76 am Leben. 

Die Ration der »Hefekostgruppe« bestand aus 25dkg Brot, 2 
dkg Wurst und 1 Liter Steckrübeneintopf mit einem Zusatz von 
Hefe pro Tag und einmal wöchentlich 6 dkg Margarine und 1 
Löffel Marmelade. Jedem Angehörigen dieser Gruppe wurde 
insgesamt 283 x Blut abgenommen. Von den 110 Häftlingen 
dieser Gruppe waren am 31.7.1944 noch 73 am Leben. 

Die Ration der »Normalkostgruppe« war wie die der »Hefe¬ 
kostgruppe«, jedoch ohne Hefezusatz. Jedem einzelnen Häftling 
dieser Gruppe wurde insgesamt 640 x Blut abgezapft, d.h. 
durchschnittlich 3 x täglich. Von den 110 Häftlingen dieser 
Gruppe blieben schließlich nur 46 am Leben. " 44> 

Die "genauen Angaben" vermittelten den Eindruck 
der Glaubwürdigkeit. Wissenschaftler haben niemals 
die erforderliche kritische Sonde angesetzt, sondern die 
Angaben wurden in der Sparte 'NS-Medizin ohne Mensch¬ 
lichkeit" von Publikation zu Publikation weiterkolpor¬ 
tiert. 

Da ich als wissenschaftlicher Leiter der Versuche für 
diese verantwortlich war und natürlich auch bleibe, 


43) T. Hilbert-Friedrich, "Beobachtungen über die Gladiole als Vitamin-C-Träge- 
rin und ihre praktische Verwendung. In: Die Nahrung 1/57 - 73 (1957). + 

Vitamine und Tierernährung” in: ”90 Jahre landwirtschaftliche Bundesver¬ 
suchsanstalt", Wien 1957. 

44) Hans Marsalek, "Mauthausen mahnt - Kampf hinter Stacheldraht 

(Tatsachen, Dokumente und Berichte über das größte Hitlerische Vernich¬ 
tungslager in Österreich)", Wien 1946, S. 64. 


29 


wurde ich besonders vorgeführt. Ich äußerte mich ein¬ 
mal kurz 45 ' und tue dies jetzt abschließend. 

Wahrscheinlich nahm kein Forscher zwischen 1936 
und 1955 mehr kurzfristige, lang- und längstdauernde 
Selbstversuche mit Hunger, Durst, einseitiger Ernäh¬ 
rung, zusätzlichen Extrembelastungen, Medikamenten 
planmäßig, wenn auch z.T. unfreiwillig mit den von der 
naturwissenschaftlichen Medizin geforderten Testen vor 
als ich. Dank dieser gewann ich eine besondere Einstel¬ 
lung zu Versuchen am Menschen. In dem Arbeitsplan, 
den ich bei der Ernennung zum Ernährungsinspekteur 

(E.I.) im April 1940 Himmler und Pohl vorzulegen hatte, 

heißt es: 

Es gehört dazu ... das Studium des Hunger- und Durstzu¬ 
standes als eines der schroffsten Emdhrungsveränderungen, die 
im Kriege zu erwarten waren, und zwar nicht an anderen 
Subjekten, sondern in Selbstversuchen, um gerade die Bedeu¬ 
tung seelischer Momente unddie Veränderungen der Leistungs¬ 
fähigkeit richtig beurteilen zu lernen." 

Noch am 5.1.1945 sagte ich im Referat "Hunger, 
Unterernährung, Wiederauffütterung" vor Ärzten und 
Intendanten aller Wehrmachtteile: 

"Jedoch möchte ich hierzu sagen, daß man solche anstren¬ 
genden Versuche nur an sich selbst vornehmen kann." 

Die gleiche Auffassung kommt auch im Brief zum 
Ausdruck, den ich zu entwerfen hatte, und den Oswald 
Pohl an Professor Dr. Karl Brandt, den Reichskommis¬ 
sar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen der Wehr¬ 
macht und langjährigen Begleitarzt Hitlers in Erwide¬ 
rung auf dessen Anfrage richtete: 

"Von SS-Gruppenfuhrer Wolff wurde mir im Auftrag des 
Rh SS Ihr Brief vom 12.1.43 zugeleitet, in welchem Sie die 
Durchführung von Ernährungsversuchen in Konzentrationsla¬ 
gern anregen, die den tatsächlichen Bedingungen an der Front 
entsprechen. Infolge Behinderung durch Bombeneinwirkung 
komme ich erst heute zur Beantwortung dieses Briefes. 

Ich habe seit Beginn des Krieges den Ernährungsinspekteur 
der Waffen-SS - Stabsarzt Prof. Dr. Dr. Schenck - in den 
Feldzügen im Westen, Südosten, Norwegen und Rußland gleich¬ 
sam als Sonde in der vordersten Front eingesetzt, um von 
vornherein Eifahrungen zu sammeln, die den tatsächlichen 
Verhältnissen in der Truppe entsprechen. Einen Niederschlag 
der Erfahrungen finden Sie in den 5 Broschüren, die ich Ihnen 
beilege. Da unsere Fronttruppen verpflegungsmäßig dem Heer 
unterstehen, habe ich seit Sommer 1942 eine Zusammenarbeit 
mit dem Verpflegungsamt im OKWeingeleitet, um unsere Erfah¬ 
rungen über die wirkliche Truppenemährung auch dieser Stelle 
unmittelbar zugänglich zu machen. 

Im Verfolg dieser Zusammenarbeit habe ich meinen Emäh- 
rungsinspekteurals Verbindungsmann zum OKW-Verpflegungs- 
amt eingesetzt, so daß ein enger Austausch unserer Erfahrungen 
und Pläne gewährleistet ist. 

Was nun die Vorwegnahme von Emährungsversuchen in KL 
betrifft, so stehe ich auf folgendem Standpunkt, den ich auch dem 
RFSS gegenüber vertreten habe: Uber die physiologischen Er¬ 
fordernisse der Ernährung des Soldaten wissen wir genau Be¬ 
scheid, einmal auf Grund unserer praktischen Erfahrungen, 
dann auf Grund der wissenschaftlichen Untersuchungen über 
Ernährung unte r extremen Lebensverhaltnissen, die sowohl von 
45) Deutsches Ärzteblatt. Heft 45, S. 3074/45,1986 


meinem E.I. bereits vor dem Kriege als auch z.Zt. von der mili- 
türärztlichen Akademie durchgeführt werden. Demgegenüber 
werden wir von Untersuchungen an Häftlingen nichts zusätzlich 
Neues zu erwarten haben, ja in bezug auf die Truppenernährung 
vielleicht sogar den wirklichen Verhältnissen entfremdet wer¬ 
den, einmal, weil die Häftlinge in ihrem Emährungs- und Trai¬ 
ningszustand nicht mit der Truppe in Vergleich gesetzt werden 
können, selbst wenn diese unterernährt ist, und 2. weil die 
ganzen positiven moralischen Kräfte fehlen, deren Bedeutung 
sich bei der Truppe so erheblich auswirken. 

Ich möchte also sagen, daß wir in der Lage sind, genau und 
in jeder Hinsicht festzulegen, was die Truppe benötigt. 

gez...." 461 

Damit war die Gefahr eines Befehls von höchster 
Stelle gebannt. 

Vom Hauptthema kurz abweichend möchte ich er¬ 
wähnen, daß ich von Versuchen an Menschen im KL nur 
zufällig erfahren hatte: In einem Fall machte mich die 
Leiterin der Heilpflanzenkulturen in Dachau darauf 
aufmerksam, daß viele Häftlinge bäten, in den Kulturen 
beschäftigt zu werden, um so der Zuteilung zu den 
gefürchteten Malariaversuchen des Prof. Cl.aus Schil¬ 
ling zu entgehen. Näheres erfuhr ich nicht und konnte 
nur den Antrag auf Zuteilung von Arbeitskräften unter¬ 
stützen. Dann las ich in der angesehenen medizinischen 
Zeitschrift Münchner medizinische Wochenschrift 
- wahrscheinlich 1943 - die Arbeit eines Dr. S. Rascher, 
der Polygal als wirksames Blutstillungsmittel vorstellte 
und dies dadurch gesichert hatte, daß er Gefangene vor 
oder nach der Einnahme des Präparates angeschossen 
und die auftretenden Blutungen studiert habe. Der 
Fachredaktion war das Kriminelle dabei offenbar ent¬ 
gangen. Ich mußte aber folgern, daß die Experimente in 
einem KL vorgenommen worden waren. 

Pohl teilte meine Empörung, meinte aber, Rascher 
sei persona, fast gratissima beim RFSS, man könne ihm 
nichts anhaben. Jedoch könnte man den Krause-Sprüh¬ 
turm, in welchem das Präparat hergestellt wurde, für 
kriegswichtige Zwecke beschlagnahmen. Dies geschah. 
Damit verging die Aussicht auf Gewinn an dem neuen 
Medikament und damit auch das weitere wissenschaft¬ 
liche Interesse. 47 ' 

Schließlich berichteten mir bei einer Inspektion im 
KL Natzweiler (Elsaß) der Lagerkommandant von dem 
sehr schlechten Zustand der Häftlinge, mit denen Sulfo¬ 
namidversuche vorgenommen würden. Ich ordnete die 
Höchstmenge von Ernährungszulagen an und geriet 
damit in die Schußlinie zweier Wissenschaftler, die sich 
bei Himmler über den Eingriff in ihre Versuchsplanung 
beschwerten, besonders wohl auch deshalb, weil gegen 
die Geheimhaltung verstoßen worden war. 

Nun aber zu den Ernährungsversuchen: 

Eigentlich achtete Himmler die Ostvölker höher als 
die seiner Meinung nach schon dekadenten Westvölker, 
weil sie sozusagen "naturbelassener" waren. So hatte er 


46) Pohl-Prozeß-Dok-Buch VIII, Dok.Nr. 1422, S. 20. Brief vom 20.3.1943 

47) Dr. Siegfried Rascher ist noch vor Kriegsende auf Befehl Himmlers erschos¬ 
sen worden; - vgl. HT Nr. 46. - Im Sprühturmverfahren wurden u.a. auch die 
Gladiolenvitamine aus dem gepreßten Saft in trockene Pulverbestandteile bei 
30 - 40 Grad Wärme destilliert. 


30 




vor, seinen SS-Orden später nach dem Kriege entspre¬ 
chend auszurichten und ihm Tabak, Alkohol und nach 
Möglichkeit Fleisch zu entziehen. Pohl und ich mußten 
einmal einen solchen Redeschwall in seinem Feldquar¬ 
tier Hochwald nahe Hitlers "Wolfsschanze" über uns 
ergehen lassen. Irgendeiner hatte ihm eingegeben, 
Angehörige der Ostvölker vertrügen vegetarische Kost 
besser als andere, weil sie einen längeren Dickdarm mit 
besserer Verdauungskraft besäßen. Er wollte unter¬ 
sucht haben, ob Slawen wirklich die besseren Vegetarier 
seien und befahl, aus Häftlingen entsprechende Grup¬ 
pen zu bilden. Westler sollten die normale Lagerverpfle¬ 
gung bekommen, Ostlern der zustehende Freibank¬ 
fleischbrocken (sowieso im Brei verkocht) ersatzlos ge¬ 
strichen werden. Planung und Organisation habe der 
Ernährungsinspekteur (also ich) zu übernehmen. 

Im Jahre 1942 war ich mit vordringlicheren Ernäh¬ 
rungsproblemen überreichlich versorgt und vermochte 
mich dem unsinnigen Projekt zu entziehen. Dann aber 
wurde Himmler drohend, nachdem ich einen Konflikt 
um die Konzentratverpflegung (Notverpflegung) der 
Waffen-SS mit Glück überstanden hatte, jedoch mit 
einer Beförderungssperre "bestraft" worden war, weil er 
von meiner Ehelosigkeit und Kirchenzugehörigkeit er¬ 
fahren hatte. 

Der Lagerarzt des KL Mauthausen, Dr. Krebsbach, 
war von Anfang an bemüht, den Ernährungszustand 
der Lagerinsassen aufzubessern. Himmler war dies 
sicherlich zu Ohren gekommen, so daß er dieses Lager 
für Forschungen auswählte und mir dort Zugang ver¬ 
schaffte. 

Vor einem Gremium von etwa 40 sach- und fachkun¬ 
digen Häftlingsärzten, -Sanitätern und -naturwissen- 
schaftlem stellte ich den Versuchsplan vor und disku¬ 
tierte, ob nach den vorgestellten Kriterien verfahren 
werden könne. 

Zu meiner Überraschung kam man von der anderen 
Seite mit zusätzlichen Vorschlägen, die zu realisieren 
wären, sofern die erforderlichen Apparaturen zur Ver¬ 
fügung gestellt würden, darunter solche, die wir im 
Kriege nur noch vom Hörensagen kannten. Da entfuhr 
mir: "Ach Kinder, Ihr wißt ja gar nicht, wie es draußen 
aussieht!", was mir später eine dienstliche Rüge ein¬ 
brachte. 

Sonderbaracken und eine von den anderen abge¬ 
trennte Küche wurden für die vorgesehenen 450 Ver¬ 
suchspersonen und die 40 bis 50 Häftlinge bereitgestellt. 
Unter Aufsicht des Lagerarztes nahmen letztere die 
Versuche in ihre Regie, suchten die Beteiligten aus und 
teilten sie in eine der 3 Gruppen (Normal-, Normal + 15 
g Nährhefe, Ostkost) ein. 

Übrigens ist der im Text stets gebrauchte Begriff 
Versuche" in diesem Fall inkorrekt. Ich wollte ja keine 
neuen Erkenntnisse auf Grund eines Versuchs gewin¬ 
nen, sondern es stand für mich bei Ausarbeitung der Er¬ 
nährungspläne fest, daß die darin festgelegten Rationen 
eine Besserung des Ernährungs- und Gesundheitszu¬ 
standes bewirken mußten. 

Der tschechische Häftling S.M. Ondraskczek führte 


mit Fleiß, großer Akribie, aber ohne jeden Sachverstand 
das Protokoll, in dem sicherlich alle Zahlenwerte zutref¬ 
fen, aber die Schlußfolgerungen seltsam sind. Es wurde 
offenbar niemals von einem Häftlings- oder gar dem 
Lagerarzt kontrolliert oder mit Fachbemerkungen ab¬ 
geschlossen. Ich gab das Buch Vorjahren dem Bundes¬ 
archiv Koblenz, um es jedem Interessenten zugänglich 
zu machen. In diesem Protokoll befinden sich die au¬ 
thentischen Angaben über Art und Häufigkeit der je¬ 
weils vorgenommenen Tests. Ich zitiere: 

"Wegen Mangels an erforderlichem Geräte-Inventar im ört¬ 
lichen Laboratorium konnten leider nicht alle vorgeschlagenen 
Untersuchungen vorgenommen werden wie: Bestimmung der 
Chloride, des Zuckers, der Harnsäure, des Eiweißes, der P H 
(Säurewert des Blutes), des Reststickstoffs, der Viscosität und 
Gerinnungszeit des Blutes, wie auch des Grundumsatzes und des 
Elektrocardiogramms. Jedoch wurde alle 14 Tage Körperge¬ 
wicht, einmal monatlich Blutdruck und die Kreislauffunktion 
nach Sc he llong (Internist, Erfinder dieser Methode) geprüft. 
Blutentnahmen fanden je Probanden 1 x monatlich statt." 

Nichts also von jenen ungeheuren Blutentnahme¬ 
zahlen laut Marsalek. 

Einem auch nur einigermaßen kritikfähigen Fach¬ 
mann hätte freilich schon früher auffallen müssen, daß 
während der Jahre 1944/45 nicht einmal die Majo- 
Klinik in den USA die ungeheure Analysenzahl hätte 
bewältigen können, die angeblich das simple Laborzim¬ 
mer eines KL erledigte. 

Die Normalkost entsprach einer optimal zubereite¬ 
ten und gerecht ausgegebenen Lagerverpflegung. Die 
Zulage von 15 Gramm Nährhefe stellte eine Verbesse¬ 
rung dar. In bezug auf die "Ostkost", bei der laut Himm¬ 
ler tierisches Eiweiß ersatzlos zu streichen war, ging ich 
meinen eigenen Weg auf eigenes Risiko: 

Nahrungs- Normal- Normal- Ostkost- erhalten 


Stoffe 

_igLZ&_ 

verpflg. 

verpflg. 

+ Hefe 

Befehl 

Himmler 

Berechng 

Schenck 

Eiweiß 

50,6 

66 

46 

85,7 

Fett 

25 

25 

25 

39 

Kohlenhydrate 449 

449 

449 

655 

Kalorien 

2.368 

2.420 

2.350 

3.422 


-——■ oivii cureu, jeuuui mucm-e 

ich sie auch in Beziehung zu den Rationen setzen, die der 
deutsche Normalverbraucher zwischen Kriegsbeginn 
und Nachkrieg zugeteilt erhielt. 






1939/40 2.435 

74,0 

57,7 

389 

1940/4 1 2.445 

70.0 

57,0 

397 

1941/42 1.928 

49,0 

47,0 

315 

1942/43 2.078 

54,3 

42,4 

356 

1943/44 1.981 

52,4 

40,2 

333 

1944/45 1.671 

46,9 

31,9 

278 

1945/46 1.412 

43,2 

21,8 

252 

1946/47 1.426 

44,3 

14,3 

272 

1947/48 1.503 

43,0 

15,1 

288< 8 > 


Infolge der "Umberechnung" wurden während der 10 
Versuchsmonate etwa 20 Tonnen hochwertiger Verpfle- 





gungsmittel nicht aus dem Bestände des zivilen Ernäh¬ 
rungsamtes sondern aus dem Truppenwirtschaftslager 
der Waffen-SS zusätzlich in das Vesuchsobjekt ver¬ 
bracht. Mein Glück, daß niemand nachrechnete. 

Das Ergebnis der Versuche entsprach den Erwartun¬ 
gen. Alle Beteiligten hatten an Gewicht zugenommen, 
die Vollvegetarierer am meisten. Der Gesundheitszu¬ 
stand der Gesunden, die schwer zu arbeiten hatten, war 
erheblich gebessert, Eiterungen verschwunden. Ich war 
bei der Abschlußuntersuchung zugegen. Damit wäre 
der Himmler-Auftrag erfüllt, das Himmler-Forschungs¬ 
projekt erledigt gewesen. 

Aber die klugen Häftlingswissenschaftler, denen ich 
als gleicherweise erfahrener Gulag-Häftling meinen 
Respekt bezeuge, wollten nach Ablauf der Versuche kei¬ 
neswegs ihre Posten aufgeben und in das Großlager zu¬ 
rückkehren. Sie befanden sich sogar in einer gewissen 
Interessengemeinschaft mit der Lagerführung, die ih¬ 
rerseits vom Privatforschungsprojekt des RFSS anse¬ 
hensmäßig profitiert hatte. Man organisierte, jetzt je¬ 
doch mit kranken und arbeitsunfähigen Häftlingen, 
eine weitere Versuchsperiode, die im Dezember 1943 
begann und im Juli 1944 endete. Ich erinnere mich 
nicht, ob man hierfür die Zustimmung aus Berlin einge¬ 
holt hat. Ich hätte zugestimmt. Das Protokoll hierüber 
erhielt ich Ende Dezember 1944 und verwendete es noch 
für das bereits erwähnte Referat "Hunger, Unterernäh¬ 
rung, Wiederauffütterung" vor maßgeblichen Militärs 
am 5.1.1945. 

Dieser "Versuch" stand unter dem unglücklichen 
Stern des Kriegsendes. Im KL Mauthausen brachen 
schwerste, dezimierende Epidemien aus, denen zahlrei¬ 
che Versuchspersonen noch in der Vorperiode zum Opfer 
fielen. Die Verpflegung der Verstorbenen wurde weiter 
angeliefert, was die Rationen verbesserte. 

Der Leiter der "Zentralstelle im Lande Nordrhein- 
Westfalen für die Bearbeitung der nationalsozialisti¬ 
schen Massenverbrechen in Konzentrationslagern" 
eröffnete 1963 auftragsgemäß gegen mich ein Ermitt¬ 
lungsverfahren wegen des Verdachts, auf Grund der Er¬ 
nährungsversuche am Tod einer hohen Anzahl von 
Häftlingen schuldig zu sein. Nach umfangreichen inter¬ 
nationalen Erhebungen und ausgedehnten Verneh¬ 
mungen wurde das Verfahren 1968 eingestellt, und ich 
seitens meiner Disziplinarbehörde wieder in den vorhe¬ 
rigen Stand eingesetzt. In der staatsanwaltschaftlichen 
Verfügung heißt es begründend, die Versuchspersonen 
seien im Verhältnis zu den übrigen Häftlingen besser 
gestellt ge wesen und hätten alles unternommen, um den 
Abschluß der Versuche hinauszuzögem. Der französische 
Zeuge Dr. Chanell, als Student während der 2. Ver¬ 
suchsreihe zum Sanitätspersonal gehörig, bekundete 
vor einem französischen Richter an Eidesstatt: 

"Solange man sie wog und ihnen etwas Blut abnahm, waren 
die, die wohlauf waren, sicher, im Block I zu bleiben, ohne 
arbeiten zu müssen. Und die anderen (die Kranken, - d. Verf.) 
waren sicher, nicht in den Wagen steigen zu müssen, der die 
Untauglichen zur Arbeit fuhr und die kleinen Krüppel nach 
Hartheim, wo sie getötet worden wären. Kurz, die Versuchska¬ 


ninchen ... wären nur zu gerne 
ewig dort geblieben, egal wel¬ 
che Diät ihnen auferlegt wor¬ 
den wäre, bemüht, sich jeden 
Tag so gut wie möglich zu er¬ 
nähren, ohne sich auch nur eine 
Sekunde einen Gedanken zu 
machen Uber die Folgen der 
Diätverletzungen auf die Be¬ 
rechnungen und Diagramme von 
Ondraskczek. Man kann sogar 
sagen, daß keiner von ihnen re¬ 
gelmäßig eine Versuchsdiät 
befolgte, ganz gleich, welche es 
war." 

Meiner Erinnerung nach 
hörte ich damals als Ge¬ 
rücht, daß in Mauthausen 
alles drunter und drüber 
gegangen sei. 

Auf die Frage nach etwa 
versuchsbedingten Schädi¬ 
gungen sagte der Zeuge: 

"Ich glaube ehrlich, daß 
diese Versuche niemandem ge¬ 
schadet haben. Sie waren im 
Gegenteil sowohl für die ver¬ 
antwortlichen Deutschen als 
auch für die Häftlingslaboran- 
ten und Versuchskaninchen eine 
Gelegenheit, sich zu drücken." 

Auf die Todesfälle (sol¬ 
che gab es nur in der 2. Ver¬ 
suchsreihe) angesprochen: 

"Die Haßlinge.... die schon 
gesundheitlich geschädigt wa¬ 
ren, waren im Krankenlager, 
wo die Sterblichkeit durch Ruhr, 
Typhus etc. täglich zunahm und 
zum Schluß ein enormes Aus¬ 
maß angenommen hat. Meiner 
Meinung nach muß man den 
Tod dieser Häftlinge ausschlie߬ 
lich auf diese Krankheiten zu¬ 
rückführen, da die Versuche, 
denen sie unterzogen wurden, 
an sich nicht gefährlich waren." 



Kölnische Illustrierte 
Zeitung, 9. Jan. 1936 


Die staatsanwaltlichen Ermittler stellten abschlie¬ 
ßend fest, daß die Ernährungsversuche im KL Mau¬ 
thausen nicht gegen die Menschlichkeit verstoßen, nicht 
die Menschenwürde verletzt hätten und mit dem Be¬ 
rufsethos des Arztes vereinbar waren. 


49) Dr. Raymond Chanell-Nievre, aus politischen Gründen am 17.9.1943 in 
Mauthausen eingeliefert (Nr. 33.126). Aussage auf Veranlassung der franzö¬ 
sischen Vereine ehemaliger Mauthausen-Häftlinge. Sie wurde vom Gesund¬ 
heitsdienst der belgischen Truppen in Deutschland am 11.3.1968 an den 
Staatsanwalt beim Bayerischen Verwaltungsgeridit in München zu den 
Akten meines Ermittlungsverfahrens gegeben. Siehe EinstellungsverfUgung 
in Köln vom 16.8.1968 (AZ 24 -1 40/65 IZ]). 


32 





Alexis Carrel (1873 - 1944) 
Nobelpreisträger -- und Schreibtischtäter? 


Im Jahre 1935/36 erschien fast gleichzeitig in großen 
Verlagshäusern Amerikas, Frankreichs, Deutschlands 
und wahrscheinlich auch einiger anderer Länder das 
Buch: 

"Man - the unknown; L'homme inconnu" - "Der 
Mensch - das unbekannte Wesen" des Nobelpreisträ¬ 
gers Alexis Carrel. 

Er begann es, schreibt er einleitend, weil einer es 
beginnen mußte. Weil die Menschen die moderne Zivili¬ 
sation nicht auf den gegenwärtigen Geleisen weitertrei¬ 
ben dürfen- - weil sie entarten. 

"Verkommt der Mensch, dann vergeht die Schönheit der 
Kunst, dann schwindet das Erhabene aus der natürlichen Welt." 

Carrel hatte Menschen so gut wie in jeder Form ihrer 
Lebensäußerungen beobachtet, hatte sich mit Freunden 
aus verschiedensten Berufswelten auseinandergesetzt. 
Viele hatten ihn zum Schreiben dieses Buches gedrängt, 
das er nicht im ländlichen Frieden, sondern in dem 
Wirrwarr, dem Lärm, der Nervenmühle von New York 
verfaßte und jedem zueignete, dessen Arbeit der Bil¬ 
dung und der Betreuung der menschlichen Persönlich¬ 
keit galt - mit einem Worte: jedem Mann und jeder 
Frau. 

In Erkenntnis der Gebrechlichkeit der von uns ge¬ 
schaffenen Kultur rechnet er mit dem Verständnis aller, 
die nicht nur die Notwendigkeit geistiger, politischer 
und sozialer Veränderungen einsähen, sondern auch 
begriffen, daß die industrielle Zivilisation über Bord 
geworfen und eine neue Form des menschlichen Fort¬ 
schrittes heraufgeführt werden müsse. 

Er ist überzeugt, daß fast alle Völker dem von Nord¬ 
amerika zu weisenden Weg folgen würden; denn die 
Länder, die blindlings Geist und Technik der industriel¬ 
len Zivilisation übernommen hätten, Rußland ebenso 
wie Frankreich, England, Deutschland seien den glei¬ 
chen Gefahren ausgesetzt wie die Vereinigten Staaten. 

Carrel ruft auf zum Kampf um die Rettung des 
Menschengeschlechtes. Es geht ihm um die Schaffung 
eines neuen Menschen. 

Das Buch fand viele Leser; es war in aller Munde. 
Aber der Zweite Weltkrieg begann, und Furchtbares 
ging über die Völker hinweg, denen Carrel es als Weg¬ 
weiser zugedacht hatte. Sein Inhalt verwehte; der Titel 
wurde zum geflügelten Wort. 

Als ich jüngst meinen "Carrel" wiederfand, bemerkte 
ich es an Anmerkungen und Anstreichungen: Ich mußte 


ihn vor mehr als ei nem halben Jahrhundert gut studiert 
haben, aber die Seiten, die mich beim jetzigen Lesen 
bestürzten und zum Schreiben dieses Aufsatzes aufstör¬ 
ten, waren unbeachtet und von Anmerkungen verschont 
geblieben - als außerhalb jeder damaligen ärztlichen 
Vorstellung gelegen. 

Wer war nun dieser Alexis Carrel? War der An¬ 
spruch, mit dem er auftrat, berechtigt? 

Zweifellos war er einer der großen Forscher in der 
umfangreichen Zahl bedeutender Gelehrter, die zwi¬ 
schen 1860 und 1880 geboren, das Bild vornehmlich von 
Medizin und Naturwissenschaft in der ersten Hälfte 
unseres Jahrhunderts geprägt haben. Im Jahre 1912 er¬ 
hielt er den Nobelpreis für sein Verfahren zur Trans¬ 
plantation von Gefäßen. Vor Frau Rabinowitch-Kemp- 
ner in Berlin und A. Fischer in Kopenhagen wurde er 
zum Pionier der Gewebezüchtung. Die von ihm mehr als 
30 Jahre lang von Kulturgefäß zu Kulturgefäß übertra¬ 
genen und stetig unverändert weiterwachsenden Zell¬ 
konglomerate aus seinem Kükenherzen waren weltbe¬ 
rühmt. Und der ihm gelungene Nachweis, Lebendes un¬ 
verändert erhalten und weiterzüchten zu können, präg¬ 
te wohl auch seine spätere, über die frühen Experimen¬ 
te weit hinausgreifenden Vorstellungen von der Schaf¬ 
fung eines neuen Menschen. 

Von dem Brüderpaar, dem älteren Simon und dem 
jüngeren Abraham Flexne 501 , den Talentsuchern der mit 
fast unausschöpflichen Mitteln ausgestatteten Rocke- 
feller- und Carnegie-Stiftungen, wurde er 1904 in das 
Rockefeller-Institute für Medical Research (jetzt Rocke- 
feller-Universität) in New York geholt, an dem er dann 
fast 30 Jahre lang, freundschaftlich verbunden mit zahl¬ 
reichen dort ebenfalls arbeitenden hervorragenden 
Forschern, tätig war, wobei er zugleich die Möglichkeit 
erhielt, Forschungsstätten in aller Welt aufzusuchen. 

Nach alledem mußte ihn der Leser seines Buches — 
und das war auch bei mir der Fall, ehe ich seinen Lebens¬ 
daten nachging - für einen Amerikaner halten. Jedoch 
er war Franzose und im Jahre 1873 nahe der Stadt Lyon 
geboren, wo er auch Medizin studierte, zum Dr. med. 
promovierte und zwei Jahre lang als Facharzt für Patho- 


50) Der erste war ein bedeutender Bakteriologe, der andere Organisator von 
hohen Graden, der die amerikanischen Universitäten und die amerikanische 
Wissenschaft nach dem Studium -der europäischen Einrichtungen und nach 
Vergleich mit denen des eigenen Landes aus der Mittelmäßigkeit innerhalb 
von 20/30 Jahren zur Spitze führte. 




logie tätig war. Erst 1904 zog es ihn in die U.S.A. und 
zwar zunächst an die Universität von Chicago; doch 
schon nach etwa 2 Jahren wechselte er in das Rockefel- 
ler-Institut über. Im Ersten Weltkrieg- bereits seit 1912 
Nobelpreisträger - ging Alexis Carrel als Chirurg zum 
Kriegsdienst in sein Vaterland und entwickelte für die 
Verwundeten das Carrel-Dakin-Verfahren der antisep¬ 
tischen Wundbehandlung. 

Nach Kriegsende kehrte er in das Rockefeller-Insti- 
tut zurück und war Mitträger des gewaltigen Aufschwungs 
der bewußt und mit großem Ehrgeiz ausgebauten ame¬ 
rikanischen naturwissenschaftlich-medizinischen For¬ 
schung. 

Dieser Ehrgeiz findet seinen Ausdruck in einer 
Bemerkung des bereits erwähnten Abraham Flexner 
aus dem Jahre 1920, der zugleich voller Anerkennung 
für die deutsche Wissenschaft war. Sie lautet: 

"Die deutsche Wissenschaft ist zwar in den letzten 50 Jahren 
die fiihrende in der Welt gewesen. Das verarmte Deutschland 
wird aber nicht in der Lage sein, diese Vormachtstellung zu 


behaupten, und daher ist es jetzt an der Zeit, daß Nordamerika 
dieses Erbe antritt." 521 

An Geldmitteln, die dazu beitragen konnten, mangel¬ 
te es diesen großen Stiftungen nicht. 

Carrel betrieb in diesen nicht ganz zwei Jahrzehnten 
seine Gewebszüchtungs-Studien, die ihn berühmt mach¬ 
ten; zugleich befaßte er sich auf Reisen mit Technik, 
Zivilisation, Kultur und den Verhältnissen der Men¬ 
schen in ihrer Umwelt. 

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges sehen wir den 
Patrioten A. Carrel wiederum in seinem Heimatlande, 
offenbar seines Alters wegen nicht mehr im aktiven Mi¬ 
litärdienst, sondern 1939/1940 im französischen Ge¬ 
sundheitsministerium. Nach der Niederwerfung Frank¬ 
reichs durch die deutschen Armeen verblieb er in Paris 
und wurde dort zum Direktor der französischen Stiftung 
zum Studium der menschlichen Probleme ernannt. Bis 
zu seinem Tode am 5.11.1944 im 71. Lebensjahre ver¬ 
blieb er anscheinend in dieser Stellung. 531 


Eugeniker 


Dieser Alexis Carrel wollte kein Philosoph sein; mit 
seinen über 60 Jahren stand er 1935 auch nicht mehr im 
ärztlichen Leben. Er war ein begnadeter Naturforscher, 
aber kein Spezialist. Vielfältige Untersuchungen, stän¬ 
dige Beobachtung der menschlichen Verhältnisse und 
von Erdenbewohnern allenthalben hatten ihn zum 
Eugeniker werden lassen, d.h. zum Betrachter und 
Beurteiler des ungeheuren Konsortiums ungezählter 
menschlicher Individuen. Er betrachtete dieses mit 
zunehmender Sorge, da er es infolge einer massiv sich 
durchsetzenden technologischen Zivilisation nicht nur 
in seiner inneren Ordnung für gefährdet hielt, sondern 
bereits im Zustande der Entartung sah. Das naturgege¬ 
bene Gleichgewicht zwischen Psyche und Soma erschien 
bereits ihm weitgehend gefährdet. 

Sein Interesse galt jedoch vornehmlich den "weißen 
Rassen", in denen er die Verursacherinnen des sich 
verhängnisvoll anbahnenden Übels erkannt hatte. Dabei 
sah er "Rasse" nicht biologisch, sondern faßte unter 
diesem BegrifF alle Völker zusammen, die sich im Aus¬ 
bau der "technologischen Zivilisation" hervortaten. 

Eine antisemitische Äußerung, um dies klar zu stel¬ 
len, findet sich in seinem Buche nirgends; Juden arbei¬ 
teten ja Seite an Seite mit ihm im Rockefeller-Institut. 
Wenn er einmal Siegfried Freud kritisierte, so aus 
einem anderen Grunde. 511 Da die Gefahr für die Mensch¬ 
heit, meint Carrel, von den U.S.A. als dem Lande höch¬ 
ster technologischer Zivilisation ausgegangen sei, hät¬ 
ten die Vereinigten Staaten bei der Wiederherstellung 

51) wie sich aus folgendem Zitat ergibt: 

"Ein Primat der Psychologie wäre aber nicht weniger geßhrlich als ein Primat 
der Physiologie. Freud hat mehr Schaden angerichtet als die extremst mecha¬ 
nistisch eingestellten Forscher. Es wäre durchaus von Obel .... wenn der 
Mensch einzig und allein aufseine geistigen Ausdrucksformen zuhlckgeßhrt 
wurde", S. 282. 


der Ordnung im "Konsortium humanum" auch die Füh¬ 
rerrolle zu übernehmen, also sozusagen "Menschheits¬ 
therapie" zu betreiben. Die Eugeniker, die dazu bereit 
wären, stünden vor 3 großen Aufgabenbereichen: Sie 
müßten 

1. ) den Gang der Entartung der Menschheit beobach¬ 
tend verfolgen, 

2. ) die Mittel und Methoden zur erneuten Aufbesse¬ 
rung des Menschengeschlechtes erarbeiten und 

3. ) die Ausmerze des unwiderruflich Entarteten und 
Verdorbenen anregen oder durchführen. 

Hierzu führt er im einzelnen aus: 

(1.) Beobachtung: 

Da die Entartung der Menschheit ein langsam ablau¬ 
fender Vorgang sei, der innerhalb einer Generation 
kaum erfaßt werden könne, müsse eine Organisation 
eingerichtet werden, die die Prozesse über Geschlech¬ 
terfolgen hinweg kontinuierlich verfolge, aber nicht 
regulierend eingreifen dürfe. Dies solle mittels eines 
Institutes geschehen, das den geistigen Brennpunkt der 
Entwicklung der modernen Gesellschaft darstelle und 
deren Verhalten über mindestens ein Jahrhundert hin 
fortlaufend verfolge. Gleich dem obersten Gerichtshof 
der U.S.A. würde dieser "hohe Rat" nur aus wenigen 
Menschen bestehen und lediglich ein "Denkzentrum" 
darstellen, d.h. kein Mitglied dürfe selbst forschen und 
selbst lehren. Eine derartige Institution wäre eine Ret¬ 
tung für die weißen Rassen auf ihrem taumelnden Weg 

52) F. Fillleborn. "Der Wiederaufbau der deutschen Wissenschaft”, Beilage zu 

den Mitteilungen des Verbandes der deutschen Ilochschtden 1923, S. 14. 

53) Die wenigen hier beigebrachten Daten, die, wie wir sehen werden, manche 
Frage offen lassen, entnahmen wir der "Enzyklopaedia Britannica". Andere 
Quellen waren noch weniger aufschlußreich, eine Biographie scheint nicht 
vorzuliegen. Zu erwähnen bleibt, daß Carrel außer dem hier behandelten Buch 
noch veröffentlichte: "The culture of Organs" (1938); "La Priere" (1944) und 
nachgelassen: "Reflektions on Life" (1952) 


34 


HietoHmehe Tote 


zu einer neuen Kultur, und die Führer der Völker, ob 
nun die demokratisch oder diktatorisch regierenden, 
würden von hier Auskünfte empfangen. Die ruhige 
Tätigkeit, die Beratung, die Ausstrahlung der stillen 
Denkart dieser hohen Vereinigung würden den Bewoh¬ 
ner der modernen Polis vor den mecha nischen Erfindun¬ 
gen schützen, die ihm körperlich oder geistig gefährlich 
sind, vor den Verfälschungen des Denkens und der 
Ernährung, vor den Willkürmaßnahmen der verschie¬ 
denen Fachgelehrten, kurzum vor jedem Fortschritt, 
den nicht ein öffentliches Bedürfnis, sondern die Hab¬ 
sucht oder der Selbstbetrug der Erfinder heraufbeschwo¬ 
ren hat. Die Mitglieder dieser Institutionen hätten eine 
höhere und geachtetere Stellung einzunehmen als die 
Richter am obersten Gerichtshof, wären sie doch die 
Verteidiger von Leib und Seele eines großen Volkes bei 
seinem tragischen Kampf gegen die blinde materialisti¬ 
sche Wissenschaft. 

(2.) Aufbesserung: 

Der berühmte Gewebezüchter mußte schon von die¬ 
sen seinen Erfahrungen her der sicheren Gewißheit 
sein, daß man im Konsortium humanum geeignete Ele¬ 
mente ausfindig machen könne, deren Weiter- und 
Emporzüchtung sich zum Nutzen des Ganzen lohne und 
weitere Entartung hintanhalte. 

"Wenn wir die Starken noch stärker machen, können wir 
auch den Schwachen wirksame Hilfe leisten; denn die Masse hat 
immer ihren Nutzen von den Ideen und Erfindungen der Elite. 
Statt die organischen und geistigen Ungleichheiten einzuebnen, 
sollte man sie vielmehr erweitern und größere Menschen schaf¬ 
fen". 

Bei seinem Plan der Entwicklung einer "nichterbli¬ 
chen Aristokratie" oder "Elite" geht Carrel von der Vor¬ 
stellung aus, daß für die geistige und körperliche Höher¬ 
züchtung geeignete Menschen in allen Gesellschafts¬ 
klassen aufzufinden seien, daß sie aber in besonderer 
Häufigkeit in hervorragenden Familien, wenn auch 
häufig unter dem Mantel der Entartung verborgen, 
vorkämen wie z.B. als Söhne reicher Männer, von Ari¬ 
stokraten, aber auch von Verbrechern. (Carrel spricht 
immer nur vom männlichen Geschlecht.) Diese müsse 
man schon als kleine Kinder von den Eltern trennen, da 
man nur dann die Kraft ihrer Erbanlagen durch geeig¬ 
nete Erziehung zum Ausdruck bringe. Eugenik solcher 
Art sei unentbehrlich, wolle man den Bestand an Star¬ 
ken sichern, sie könne für das Schicksal der weißen 
Völker entscheidend sein. 

(3.) Ausmerze: 

Sollten die Starken sich durchsetzen, so erfordere 
dies zur Erleichterung ihres Hochkommens die Ausmer¬ 
ze der Untauglichen und Gefährlichen. Zu diesen zählt 
er nicht das Proletariat, dessen Existenz die ewige 
Schande der industriellen Zivilisation bleiben werde. Es 
müsse - um es einfacher als er auszudrücken — durch 
Hebung des allgemeinen Lebensstandards aus seinem 
Elend gerissen werden. Carreis Vorschläge zur Ausmer¬ 
ze der unnützen Menschen sind härter und tiefgreifen¬ 
der als sie je sonst gemacht und öffentlich vorgelegt 
wurden, auch wenn wahrscheinlich keine Stelle in den 
U.S. A. je danach verfahren ist. Es ist unumgänglich, sie 


wörtlich zu bringen: 

“Es bleibt noch das ungelöste Problem der zahllosen Min¬ 
derwertigen und verbrecherisch Veranlagten. Sie bedeuten eine 
unerhörte Belastung für den normal gebliebenen Teil der Bevöl¬ 
kerung. Wir haben schon einmal davon gesprochen, daß gegen¬ 
wärtig ungeheure Summen dafür verwendet werden, Gefängnis¬ 
se und Irrenanstalten zu unterhalten und die Öffentlichkeit von 
unsozialen Elementen und Geisteskranken zu schützen. Wozu 
erhalten wir alle diese unnützen und schädlichen Geschöpfe am 
Leben? Die Unnormalen hindern die Normalen an ihrer Ent¬ 
wicklung — diese Tatsache müssen wir uns hier klar vor Augen 
halten. Weshalb verfährt die Gesellschaft mit den Verbrechern 
und Geisteskranken nicht auf sparsame Weise ? Es kann nicht so 
weitergehen, daß wir versuchen, zwischen 'verantwortlich' und 
'nicht verantwortlich' einen genauen Unterschied zu machen 
und die Schuldigen zu bestrafen, während die Täter eines Ver¬ 
brechens, die wir für moralisch "nicht verantwortlich" halten, 
geschont werden. Natürlich sind wir nicht fähig, Uber Menschen 
zu Gerichte zu sitzen; die Gemeinschaft muß indessen vor stören¬ 
den und gefahrbringenden Elementen geschützt werden. Wie 
kann das geschehen ? Bestimmt nicht dadurch, daß man immer 
größere und komfortablere Gefängnisse baut, ebenso wie echte 
Gesundheit nicht durch größere und noch fachmännischer gelei¬ 
tete Krankenhäuser gefördert wird. In Deutschland hat die 
Regierung energische Maßnahmen gegen die Vermehrung der 
Minderwertigen, Geisteskranken und Verbrecherischen ergrif¬ 
fen. Die ideale Lösung wäre es, wenn jedes derartige Individuum 
ausgemerzt würde, sowie es sich als geßhrlich erwiesen hat. 
Verbrechertum und Geisteskrankheit lassen sich nur verhüten 
durch ein fundiertes Wissen vom Menschen, durch Eugenik, 
durch Verbesserung der sozialen und der Erziehungsverhältnis¬ 
se, und schließlich dadurch, daß man keinerlei sentimentale 
Rücksichten mitsprechen läßt. Bis wir soweit sind, muß wenig¬ 
stens das Verbrechertum wirkungsvoll bekämpft werden. Es 
wäre vielleicht angebracht, unsere heutigen Gefängnisse aufzu¬ 
lösen und an ihrer Stelle kleinere, billigere Anstalten zu errich¬ 
ten. Bei kleinen Verbrechen könnte man den Übeltätern eine 
heilsame Lektion mit der Peitsche oder einem etwas wissen¬ 
schaftlicher arbeitenden Züchtigungsmittel angedeihen lassen, 
was, wenn etwa noch ein kurzer Aufenthalt im Krankenhaus an¬ 
geschlossen würde, die Dinge vermutlich in beste Ordnung 
brächte. Wer aber gemordet, mit Selbstladepistolen und Maschi¬ 
nengewehren bewaffnet einen Raubiiberfall begangen, wer Kinder 
entführt, den Armen ihre Ersparnisse abgeknöpft, die Menschen 
in wichtigen Dingen bewußt mißleitet hat, mit dem sollte in 
humaner und wirtschaftlicher Weise Schluß gemacht werden: in 
kleinen Anstalten für die schmerzlose Tötung, wo es die dazu 
geeigneten Gase gibt. 

Ebenso müßte man zweckmäßigerweise mit jenen Geistes¬ 
kranken verfahren, die sich ein Verbrechen haben zuschulden 
kommen lassen. Die moderne Gesellschaft muß endlich ent¬ 
schlossen grundsätzliche Maßnahmen treffen, und zwar mit dem 
Endziel, dem normalen Individuum zu seinem Recht zu verhel¬ 
fen. Vor einer solchen Notwendigkeit haben philosophische 
Dogmen und sentimentale Vorurteile zu verstummen. Die mensch¬ 
liche Persönlichkeit zu ihrer höchsten Ausbildung zu führen, das 
ist das letzte Ziel der Zivilisation." 

Gewaltmaßnahmen derart, wie Carrel sie schon 1935 
verlangte, und deren Aufzählung wie Verwirklichung 
heute jeden Hochsensibilisierten aufs tiefste erschrek- 


35 


ken, erforderten mächtige Männer, die sie durchfuhren 
konnten. Deshalb ist nicht verwunderlich, daß Carrel, 
wie im Text mehrfach ersichtlich, bei seinen Gedanken¬ 
spielen eine gewisse Zuneigung zu autoritären Ländern 
und ihren Herrschern zeigte, deren Wirkung auf die 
Massen er wiederum auf seine Weise zu erklären suchte 
(7. Kap. Das Individuum, S. 262): 

"Auch normale Individuen können aber zuweilen ganz wie 
Hellsichtige die Gedanken anderer Menschen lesen. Ein viel¬ 
leicht analoger Vorgang ist es. daß manche Menschen die Kraft 
haben, eine große Menschenmenge durch ihre, dem Anschein 
nach ganz durchschnittlichen und bedeutungslosen Worte zu 
überzeugen und mit fortzureißen und Menschen zu Glück und 
Kampf, zu Opfer und Tod Zufuhren. Zwischen bestimmten Ein¬ 
zelpersonen und der Natur herrschen schwer zu erfassende, rät¬ 
selhafte Beziehungen; solche Personen vermögen sich über 
Raum und Zeit auszudehnen und die Wirklichkeit in ihrem 
konkreten Sein zu erfassen. Es sieht aus, als entrönnen sie aus 
sich selbst und aus dem Zusammenhang der Körperwell." 

Abgesehen von den Diktatoren seiner Lebenszeit 
dachte der Franzose hierbei wohl auch an Napoleon I. 
Andererseits aber habe ich niemals gelesen oder gehört, 
daß sich ein deutscher Wissenschaftler zur Rechtferti¬ 
gung der Tötung Geisteskranker auf Carrel als gewiß 
hochwillkommenen ausländischen Kronzeugen berufen 
hätte, obgleich sein Buch offen auslag. Ergänzend möch¬ 


te ich bemerken, daß Einiges von dem, was Carrel für die 
Zukunft forderte, in den U.S.A. damals bereits prakti¬ 
ziert wurde, wie folgende Buchankündigung und -be- 
sprechung beweist: 

Sterilisierung zum Zwecke der Aufbesserung des 
Menschengeschlechts", von E.S. Gosney, B. S. LL. B., 
Präsident der Stiftung für Verbesserung des Menschen¬ 
geschlechts, Pasadena, Kalifornien, und Paul Popenoe, 
D. Sc. Direktor des Instituts für Familienforschung, Los 
Angeles, Kalifornien. 

Deutsch von Dr. med. Konrad Burchardi, Facharzt 
für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Los Angeles, 
Kalifornien, Oktav 78 S. 1930. Vorzugspreis 4 RM, Ein¬ 
zelpreis 5,35 RM (Abhandlungen auf dem Gebiete der 
Sexualforschung Bd. V H 5.) 

"Die Verfasser behandeln in diesem Buche unter Benutzung 
des umfangreichen Tatsachenmaterials, das die in Amerika 
schon weit vorgeschrittene eugenische Denkweise geschaffen 
hat, in systematischer Darstellung die Sterilisation, d.h. die 
dauernde oder zeitweilige Ausschaltung der Fortpflanzungsfä¬ 
higkeit (ohne Beeinträchtigung des persönlichen Sexuallebens) 
zum Zwecke der Aufbesserung des Menschengeschlechtes. Ein 
solcher, auf praktische Erfahrung sich stützender authentischer 
Bericht findet in Europa das größte Interesse vor, wo der 
Gedanke der Ausmerze minderwertigen Erbgutes an Boden 
gwinnt. 


Verbrecher? 


Hätte Martin Luther um 1940 gelebt, so wäre er 
wegen der Streitschrift "Wider die räuberischen und 
mörderischen Rotten der Bauern " wahrschei nlich heute 
aus der Liste der Christen gestrichen und in die der 
Schreibtischtäter übernommen worden. Wäre Alexis 
Carrel Deutscher gewesen, so würde er sich eines zwei¬ 
felhaften Ruhmes erfreuen, und man würde noch seine 
Schatten jagen. 

Aber Martin Luther ist seit 440 Jahren tot und bleibt 
der große Reformator. Seine Briefe wurden Zunder. 
Aber Alexis Carrel war Franzose, und die Geschichtsjä¬ 
ger in deutschen Revieren ließen ihn unbehelligt. Je¬ 
doch darf man eine große Sache nicht so einfach abtun. 
Bei Erörterung von Universalien der Menschheit, deren 
eine zweifellos Eugenik ist, werden oftmals in abstrak¬ 
ter Kälte Worte gebraucht, die dem Individuum, das es 
möglicherweist betrifft, herzlos, grausam, ja furchtbar 
erscheinen müssen; doch sie schweben über dem einzel¬ 
nen wie die schwarzen Wolken über der Erde und haben 
- darf man es sagen— auf ihrer Ebene kein moralisches 
Gewicht mehr. 

Ich kann Alexis Carrel, der seiner tiefen Sorge um die 
Menschheit in reiner Brust so überzeugend zum Aus¬ 
druck bringt, wegen zweier bestürzender Seiten keiner 
verbrecherischeh Gesinnung zeihen. 

Vielmehr glaube ich, daß er am Ende seines Lebens in 
tragische Verstrickung geriet. Mein Wissen über sein 
Wirken von 1941-1944 ist dürftig. Er verbrachte diese 
Zeit, wie er erwähnt, in Paris, also unter deutscher 
Oberhoheit, in einem Institut zur Erforschung mensch¬ 
licher Probleme. Wir fragen französische Zeitzeugen 


nach Aufgabe und Tätigkeit des Institutes, wir fragen 
nach dem Tode Carreis. Er starb im Alter von 71 Jahren, 
neun Wochen nach dem Einzug General de Gaulles in 
Paris (25.8.1944) — irgendwie von den Befreiungswirren 
verschlungen oder unbehelligt? Man darf fast vermu¬ 
ten, daß Alexis Carrel ein trauriges Ende fand. Weshalb 
schrieb er 1944, wenn es zutrifft, das Buch "La priere" 
und was verbirgt sich hinter dem Titel? 

Der Anreger 

Frankreich hätte nach einiger Beruhigung der Gei¬ 
ster jetzt wohl die Verpflichtung, diesen Mann der Nach¬ 
welt vorzustellen, so wie er war. 

Eine weit höhere Verpflichtung aber fiele sicher den 
Rockefeller-Institutionen zu; war dort doch der Platz, an 
dem Alexis Carrel seine Vorstellungen und Lehre hatte 
konzipieren können, wo er sie mit bedeutendsten Män¬ 
nern, von denen er nur wenige namentlich anführte, 
erörterte, sich von ihnen beraten und ermutigen, ja zur 
Niederschrift drängen ließ, die er ebenfalls in der Unru¬ 
he seiner Arbeitsstelle vornahm. 

In welcher Weise wäre einer solchen Verpflichtung 
nachzukommen? Die Genfer Konvention vom Roten 
Kreuz wurde abgeschlossen zu Hilfe und Schutz von 
Menschengruppen jeglicher Art gegen alle erdenklichen 
kurz- oder längerdauernden Gefährdungen. Es erübrigt 
sich jedes weitere Wort über ihre segensreiche Tätigkeit. 

Ein unzählbar Mehrfaches derer, die unter den Augen 
Dunants, des Schöpfers des Roten Kreuzes, auf dem 

54) Bibliographie - Januar 1931 in R. Finkeiburg: "Die Therapie an den Bonner 
Universitätskliniken" Berlin - Köln 1931.) 



Schlachtfeld von Solferino verbluteten, kränkt sich heute 
um den Weg der Menschheit insgesamt, sieht Abgründe 
und fürchtet, wie schon Carrel vor 50 Jahren tat, durch 
Industrieen verursachte Selbstvernichtung. Mehr noch, 
Menschen, die ein Konsortium humanum erträumen, 
sehen sich im Kollektiv entkernt, und ihre Hoffnung auf 
Früchte vom Lebensbaum weicht der Angst vor einem 
sinnentleerten Nichts. 

Der einzelne kann lediglich ein Zeichen setzen und 
muß sich angesichts des ungeheuren Leidens- und 
Schädigungskomplexes, in dem wir uns mitten drinnen 


wie in einem nicht mehr funktionierenden Planetarium 
befinden, jeder weiteren Ausführung enthalten. Man 
sollte, denke ich, Carreis Vorschlag einer Institution, die 
das Verhalten des Menschengeschlechtes und das seiner 
sich weiterhin anthropogen umgestaltenden Umwelt 
kontinuierlich über Generationen hin beobachtet und 
beurteilt, aufgreifen und eine internationale Eubiotik- 
Konvention (Konvention Alexis Carrel) schaffen. Dort, 
von wo die Anregung ausging, könnte es Heimat und 
ersten Sitz finden. 


Ein Dokument ergänzender Art 

Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 
Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und -Volksbildung und der 
ünterrichtsverwaltungen der Länder, Jahrgang 1944 S. 61 - 62: 


RdErl. d. RMfWEV. v. 6.3.1944 - E H a (C 19 Geh.Sch.) 2/44 - 

Abschrift meines Runderlasses vom 24. Februar 1937 - E VI29 E 
IV (b) - (MB1WEV. S. 126) übersende ich zur Kenntnis. Diese 
Regelung gilt auch für die Blinden- und Gehörlosenschulen Ihres Auf¬ 
sichtsbereichs. 

An die Herren Rcichsstatthalter in den Alpen- und Donaureichs¬ 
gauen. den Herrn Reichsstatthalter in Reichenberg, die Herren Reichs¬ 
statthalter in Danzig und Posen und die Herren Regierungspräsidenten 
in Kattowitz und Zichenau. 

Organisation des Unterrichts an 
Taubstummen- und Blindenanstalten. 

Die Zahl der taubstummen und blinden Kinder gehl aus 
Gründen teils volksbiologischer, teils gesundheitspfiegerischer 
und sanitär vorbeugender Art seit geraumer Zeit stetig zurück. 
Ein weiteres Absinken der Zahl der erbkranken Taubstummen 
und Blinden ist durch die Maßnahmen des nationalsozialisti¬ 
schen Staates zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eingelei¬ 
tet. Mit dieser Entwicklung haben die organisatorischen Ma߬ 
nahmen auf dem Gebiete des Taubstummen- und Blindenunter¬ 
richts nicht Schritt gehalten, so daß eine Überprüfung der An¬ 
staltsverhältnisse, insbesondere der schulischen Einrichtungen, 
unter erzieherischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten er¬ 
forderlich erscheint. Diese Einrichtungen sind den veränderten 
Verhältnissen möglichst weitgehend anzugleichen. Dabei ist je¬ 
doch die Eigenart der Erziehungsarbeit an Taubstummen und 
Blinden angemessen zu berücksichtigen. 

Im Einvernehmen mit dem Herrn Reichs- und Preußischen 
Minister des Innern ordne ich daher an: 

1. Der Klassenaufbau der Taubstummen- und Blindenschu¬ 
len muß jederzeit sowohl pädagogisch sinnvoll als auch finan¬ 
ziell vertretbar sein. Daher ist die Gliederung der Schüler und 
Schülerinnen nach Schulalter und Leistungen von Zeit zu Zeit 
sorgfälüg zu überprüfen. 

Wo die erzieherische Arbeit durch Mischung allzu starker 
Abstufungen von Bildungsgraden, Erziehbarkeitsgraden und 
spezifischen Abnormitätserscheinungen sichtlich gehemmt wird 
und einer angemessenen Klassengliederung infolge schwacher 
Besetzung der Klassen finanzielle Bedenken entgegenstehen, 
sind die Schulaufsichtsbehörden gehalten, die Schulunterhal¬ 


tungsträger zu ausgleichenden organisatorischen Maßnahmen 
über den Bereich der einzelnen Anstalt hinaus anzuregen. Es ist 
zu prüfen, inwieweit durch Schüleraustausch unter dem Ge¬ 
sichtswinkel der Bildungsfähigkeit Zusammenlegung selbstän¬ 
dig nicht lebensfähiger Anstalten und Gründung von Zweck ver¬ 
bänden Abhilfe geschaffen werden kann. Für die Weiterbeschäf- 
ügung etwa freiwerdender Lehrkräfte ist rechtzeitig zu sorgen. 

Ferner ist mit Rücksicht auf den Einfluß, den eine geordnete 
Berufsschularbeit auf die Eingliederung der Taubstummen und 
Blinden in den normalen Arbeitsgang und die Volksgemein¬ 
schaft zu nehmen vermag, die Einrichtung von Berufsschulen, 
soweit sie finanziell tragbar und organisatorisch sinnvoll er¬ 
scheint, nach Möglichkeit zu fördern. 

2. Die Eigenart des Unterrichts an Taubstummen- und Blin¬ 
denanstalten fordert eine entsprechende Bemessung der Schü¬ 
lerzahl in den einzelnen Klassen. 

An Taubstummenschulen soll in der Aufnahmeklasse die 
Zahl 12, in den folgenden Klassen im Durchschnitt die Zahl 15 
nicht überschritten werden. 

An Blindenschulen soll die Durchschnittsfrequenz sämtli¬ 
cher Klassen die Ziffer 16 nicht übersteigen.... 

3. Das regelmäßige Arbeitsmaß wird für Lehrer an Taub¬ 
stummenanstalten auf 28, für Lehrerinnen ... auf 26, für Lehrer 
an Blindenanstalten auf 30, für Lehrerinnen ... auf 28 Unter¬ 
richtsstunden in der Woche festgesetzt. 

Ausgenommen sind die Schwerkriegsbeschädigten Lehrer, 
für deren Heranziehung zum Unterricht der Ministerialerlaß 
vom 3. Juni 1935 ... sinngemäß Anwendung findet.... 

Die Zahl der von den Direktoren zu erteilenden Unterrichts¬ 
stunden ist auf wöchentlich mindestens 15 festzusetzen. ... In 
jedem Fall muß der Umfang der unterrichtlichen Täügkeit des 
Direktors die Gewähr dafür bieten, daß er der erzieherischen 
Aufgabe,..., in besonderer Weise verpflichtet bleibt. ... 

Berlin, den 24. Februar 1937. 

Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung 
und Volksbildung 

In Vertretung: Zschintzsch. 

An die Herren Oberpräsidenten. -- Abdruck an die Unterrichterver¬ 
waltungen der Länder. — E VI ^9 EIV (b). 


37 


Neue Diffamierungswelle läuft an 

'•Nationalsozialismus verantwortlich für die heutige Humangenetik 
und Reproduktionsmedizin. - Grundsteine hierfür gelegt in Laboratorien, 
Kliniken und Konzentrations- und Vernichtungslagern" 


Frau Professorin Dr. Heidrun Kaupen-Haas (Institut 
für Medizinsoziologie am Universitäts-Krankenhaus 
Hamburg-Eppendorf, überraschte schon 1986 +1988 die 
internationale Öffentlichkeit mit der "Erkenntnis", daß 
" dk nazistische Bevölkerungspolüik mit den beiden Seiten, 
»fortpflanzungswürdiges« Leben zu fördern und »fort¬ 
pflanzungsunwürdiges« Leben zu eliminieren, die inter¬ 
nationale Gen- und Reproduktions-Forschung beein¬ 
flußt hat". In "Reproductive and Genetic Engineering" 
Vol. 1, No. 2, pp 127 -132,1988 in den USA zeigte sie "dk 
institutionellen Klammern zwischen Experimenten in 
der Biologie, sog. Therapie-Experimenten, Massenexpe¬ 
rimenten an gesunden Frauen im Konzentrationslager 
Auschwitz und der internationalen Nachkriegsforschung 
auf'. 

Das liest sich dann so bei der Frau Professorin: 

"Frauen, die Zielgruppe für Nazi Geburtshilfe, wurden wie 
Tiere den Alternativen unterworfen, entweder zur Aufzucht, 
Sterilisierung, Kastrierung oder dem Schlachthaus." (S. 128) 

Die Analyse dieser "Forschungsarbeit" erweist, daß 
die Fülle der über den Frauenarzt Prof. Dr. med. Karl 
Clauberg aus Kattowitz gefälschten Dokumente 55 ' hier¬ 
bei eine wesentliche Grundlage bilden. Die der Öffent¬ 
lichkeit längst vorliegende Beweisführung um diese Do¬ 
kumentenfälschungen wird ebenso mißachtet, wie die 
Tatsache, daß Prof. Karl Clauberg sich schon vor 1933 
mit beachtlichen Forschungsarbeiten als internationale 
Kapazität hervorgetan, nicht hingegen als Verbrecher 
ausgewiesen hat, in den ihn die alliierten Kriegspropa¬ 
gandisten und ihnen folgend die Nachkriegs-Umerzie- 
her -- wie jeden hervorragenden Mann der deutschen 
Elite - umfunktionierten. 6 ® 

Wie Wahres mit Gefälschtem wild durcheinanderge¬ 
mixt wird mit dem Ziel, die Diffamierung der deutschen 


Medizin während des Dritten Reiches stetig auszuwei¬ 
ten, zeigt auch ein Artikel aus Der Spiegel 20/1992 S. 10 
bezüglich Prof. Dr. Heidrun Kaupen-Haas mit folgen¬ 
den Sentenzen: 

"Die Forschung in Auschwitz und in zwei Krankenhäusern in 
der Nähe von Auschwitz hatte dabei folgendes Ziel: 

1. »Fortpflanzungswürdiges« zu fördern und 

2. »Fortpflanzungsunwürdiges« zu eliminieren. 

Das heißt: Die 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' und die 
Förderung erwünschten Lebens sind untrennbare Bestandteile 
dieser Technologien. Als besonders fortschrittlich galt es, bevöl¬ 
kerungspolitische Ziele als 'Vorsorge der noch nicht Geborenen' 
zu realisieren. Die Vorsorge der noch nicht Geborenen, die die 
Geburtshilfe bis zu Qualitätskontrolle von Samen und Fi erwei¬ 
terte und intensivierte, erfolgte über den Ausbau der biochemi¬ 
schen und molekularbiologischen Grundlagenforschung und 
der angewandten Forschung - als Experiment an Frauen. Die 
Trennung von Sexualität und Fortpflanzung (durch Sterilisie¬ 
rung und künstliche Befruchtung) war Mittel der Bevölkerungs¬ 
und Rassenpolitik. 1942 wurde eine 'Reichsarbeitsgemeinschaft 
Hilfe bei der Kinderlosigkeit in der Ehe'mit dem Ziel gegründet, 
Sterilität in » vollwertigen« Ehen zu behandeln. Diese Arbeitsge¬ 
meinschaft förderte künstliche Befruchtung, wenn hormonelle 
Therapie und Eileiterdurchblasungen versagten. Dafür garan¬ 
tierte sie »genetisch hochwertigen« Samen anonymer Spender 
von »einwandfreier Herkunft«. Parallel dazu fand eine intensive 
Samenbank-Forschung statt. Man experimentierte bereits im 
Dritten Reich mit Frauen, um den optimalen Zeitpunkt für die 
Samenübertragung bestimmen zu können." 

Beweise freilich hat Der Spiegel nicht nötig. Tatsa¬ 
che jedenfalls ist, daß es seinerzeit noch nicht einmal 
Blutbanken, geschweige denn Samenbanken gegeben 
hat, da sie Erfahrungen und technische Kühl- und 
Gefrierverfahren voraussetzen, die erst nach 1945 ent¬ 
wickelt wurden! 


Draußen geblieben -- bei den Verbannten 


Meine Richtigstellungen konnten den Zorn der Betroffenen erregen und 
sie im Dezember 1955 nach Rückkehr aus sowjetischer Lagerhaft erfuhr als 
erschienen, wie z.B.: 57) 


zu ähnlichen Reaktionen führen, wie ich 
in Ost- und Westzeitungen wilde Artikel 


Schenk -- ein meineidiger Massenmörder 

Bonn (ADN). Nazi-Professor Dr. Schenk, der am 13. Dezember provokatorisch die aus der Sowjetunion enüassenen 

OTor*r n ^htTei"hfir'!l 1C ' t 0berländer in Friedb "< 1 *» Meineid sprechen lieg, daß sie nicht 

f ist selhtlein faschistischer “assenniörder. Schenk war ehemaliger 

Ü'Sr T e f“‘fr ” d **'' BHitlers. In seiner Eigenschaft als „Emähmngst 

SlTn Je dmiSrdcnsche Experimente mithochwertigen Eiweißpräpamten den Tod tausender ehemaligef Kr- 
Häftlinge und sowjetischer Kriegsgefangener auf dem Gewissen. 8 

'- Berliner Zeitung, Berlin-O, 31.12.1955_ 




Bis zum heutigen Tag variantenreich kolportiert 
ergeben sie ein Psychogramm, wie es vernichtender 
nicht sein könnte. Ich schwieg bisher dazu. 

Aber wenn sich heute "Verdächtigung hie — Verdäch¬ 
tigung da" allerorten Beschuldigungen häufen, wenn 
überall Papiere exhumiert und rufmörderisch gegen 
Unliebsame verwendet werden, dann möchte ich mich 
schließlich doch zu Wort melden und abschließend sa¬ 
gen: "So Manches im NS-Staat war anders, als es 
posthume Besserwisser ausposaunen." 

Die 12V6 Jahre Nationalsozialismus waren von so kurzer 
Dauer, daß wir noch über den Tellerrand blicken konn¬ 
ten. Die Kinder der "Deutschen Demokratischen Repu¬ 
blik" aber wurden in die Schüssel hineingeboren. Was 
uns noch zu eigen war, konnten sie nicht mehr erfassen. 
Selbst Größtes verlor sich, und gänzlich Anderes wurde 
für sie angerührt. 

Nur Introvertierte können sich da zu Schnellrichtern 
aufwerfen. Meine folgenden Bemerkungen zu persönli¬ 
chen Dingen, die ich weit hinter mir ließ, sollen lediglich 
dartun, daß man an Dinge, die sich in Grauzonen abspie¬ 
len, mit Bedacht, Sorgfalt und Güte herantreten sollte, 
wenn man ein Gerechter bleiben will. Für die unschul¬ 
dig Verfolgten meiner Generation ist der angesprochene 
Zeitabschnitt bis auf die vielfältigsten Folgen vorbei. So 
widme ich diesen vorliegenden Bericht gegenwärtig un¬ 
schuldig Verfolgten und den Häschern, die kaum ahnen, 
was sie wieder einmal zerstören können. 

Im November 1933 zog ich das Aufnahmegesuch in 
die SA zurück und begründete schriftlich: 

"Es ist mir... unmöglich zu glauben, daß für die Zugehörig¬ 
keit zu einem Volk die Rasse entscheidend sein soll... Ich bin Arzt 
und muß mich deshalb nicht den Starken, sondern den Schwa¬ 
chen verantwortlich fühlen, jenen also, die... dadurch, daß sie 
nicht aufgenommen werden, die Schar der Opfer vermehren.... 
Es ist mir unmöglich, eine Lügenbrücke zu bauen.... Dann will 
ich lieber draußen bleiben bei den Verbannten...." 

Ich stand weiterhin in aller Öffentlichkeit zu den 
geächteten jüdischen Freunden, blieb nach ihrer Emi¬ 
gration mit ihnen im Briefwechsel und regelte ihre 
persönlichen Angelegenheiten in Deutschland. Ohne 
Parteigenosse zu sein habilitierte ich mich 1936 und 
erhielt eine Dozentur verliehen, obgleich dies heutiger 
Lesart zufolge unmöglich gewesen sein soll. 1937 wurde 
ein mir zustehender, für mich beantragter Titel - wie 
mir hinterbracht wurde -- wegen meiner Beziehungen 

55) Vgl HT Nr 30. S. 18 - 22, Nr. 31 S. 18,25,32 + Nr. 34 S. 36 + Nr. 47 S. 13 

15. 

56) Karl Clauberg, "Die weiblichen Sexualhormone in ihren Beziehungen zum 
Genitalzyklus und zum Hypophysenvorderlappen", 1933; "Akute Vorder¬ 
lappen Hormonwirkung am Ovar und deren diagnostische und therapeuti¬ 
sche Ausnutzung", 1933; "Die biologische Frühdiagnose der Schwanger¬ 
schaft" 1934; "Grundlagen für die moderne Therapie mit weiblichen Sexual¬ 
hormonen" 1935; ; "Künstlich erzeugtes Tubenwachstum, ein Mittel zur 
Behandlung des Eileiterverschlusses" 1936; "Eperimentelle Untersuchung 
zur hormonalen temporären Sterilisation hormonal-bedingter Sterilität" 
1936; "Innere Sekretion derOvarien und der Placenta" 1937; "DerEintrittder 
Geburt als hormonales Problem" 1938; "Verrannte Geburtsmedianismen. 
Ihre Korrektur durch retrograde Konstruktion eines neuen Geburtsmechanis¬ 
mus" 1939; "Die Behandlung der chronischen Eileiterentzündung unter 
besonderer Berücksichtigung der Anwendung des Follikelhormons" 1940. 

57) Vgl. Titelbild HT Nr. 33 S. 1. 


zu jüdischen Kreisen abgelehnt. Daraufhin kündigte ich 
meine Stellung, nicht ohne das Ministerium auf eine 
weit verbreitete Unzufriedenheit im akademischen 
Mittelbau hinzuweisen, was eine Rüge wegen unge¬ 
bührlichen Verhaltens zur Folge hatte. 

Wäre ich der "stramme Nazi" gewesen, zu dem man 
mich später machte, so hätte ich alles andere eher als 
eine Zurücksetzung zu erwarten gehabt. So stand ich 
draußen vor und dachte an die Niederlassung als Inter¬ 
nist und Arzt für Naturheilverfahren. Darauf hatte ich 
mich seit Jahren praktisch, theoretisch, mit öffentlichen 
Vorträgen vorbereitet und mir einen gewissen Namen 
gemacht. Das wurde Anlaß zu einer überraschenden 
Wende. 

Ich wurde nach München zum Reichsärzteführer Dr. 
G. Wagner beordert. Der nahm keinen Anstoß am feh¬ 
lenden Parteiabzeichen, fand Gefallen an der Auseinan¬ 
dersetzung mit der Universität und beauftragte mich 
mit der Planung eines Gesundheitshauses der Ärzte¬ 
schaft sowie der Organisation einer Klinik, in welcher 
nach streng wissenchaftlicher Methodik Verfahren der 
Naturheilkunde geprüft und bewertet werden sollten. 
Ersterer Plan scheiterte aus finanziellen Gründen. Die 
Prüfklinik hingegen wurde verwirklicht und ich Mitte 
1938 zum Chefarzt der II. medizinischen Abteilung des 
Krankenhauses München-Schwabing bestellt. Die wun¬ 
derbare Entwicklungarbeit fand mit Kriegsbeginn 1939 
ihr Ende. Das Parteibuch der NSDAP brachte der zu¬ 
ständige Ortsgruppenleiter Anfang 1939 in mein 
Dienstzimmer. Ab August 1939 wurde die NSDAP- 
Zugehörigkeitfür Kriegsteilnehmer bekanntlich ausge¬ 
setzt. Doch unabhängig hiervon war es gar keine Frage, 
daß das einem Arzt abverlangte und von ihm als selbst¬ 
verständlich erachtete Verhalten nach wie vor dominie¬ 
rend blieb. So spendete er selbst Blut, wenn dies half, 
einen Regimegegner oder aus anderen Gründen in ei¬ 
nem KL Inhaftierten vor dem Ausblutungstod zu retten, 
so versorgte er kranke Kriegsgefangene oder Ostarbei¬ 
ter nach gleichen Grundsätzen wie deutsche Kranke. 

Lediglich die Aufgaben, vor die ich mit Kriegsbeginn 
von einem Augenblick zum anderen gestellt wurde, 
waren gänzlich neu. Bei der Krankenernährung der Zi¬ 
vilbevölkerung ergab sich sehr schnell ein Leck, das die 
gesamte Lebensmittelrationierung gefährdete und für 
das die Ärzteschaft verantwortlich gemacht wurde. 

Reichsgesundheitsführer Dr. L. Conti beauftragte 
mich mit der Abdichtung. Sie gelang innerhalb eines 
Monats und hielt bis in die Nachkriegszeit an. Conti 
hatte auch durchgesetzt, daß jeder im Deutschen Reich 
Beheimatete im Krankheitsfall Anrecht auf gleiche 
Ernährungszulagen hatte. 

So wurden z.B. bei der Gesamterfassung der Zucker¬ 
kranken am 15.2.1941 im Reichsgebiet auch 1.645 jüdi¬ 
sche Diabetiker gezählt, welche Zulagen erhielten. Zu 
diesen wären andere zu rechnen, welche wegen anderer 
Krankheiten in gleicher Weise versorgt wurden. Das 
wäre im einzelnen zu analysieren. An dieser Stelle 
möchte ich lediglich feststellen, daß es ungeachtet der 
Behandlungsverbote im Reichsgebiet damals hunderte 
von Ärzten gegeben haben muß, welche Juden solange 


liwtorieche Tataachen Nr. 66 


39 



krankheitsgerecht behandelt haben, solange sie sich vor 
der Ende 1941 verfugten Zwangsdeportation in ihrem 
ärztlichen Hilfsbereich aufhielten. 

Bereits im Herbst 1939 traten bedenkliche Schwie¬ 
rigkeiten bei der Verpflegung der Fronttruppen auf. Die 
Oberkommandierenden der Wehrmachtteile schufen 
daraufhin die Position eines »Emährungsinspekteurs« 
zunächst bei der Waffen-SS mit späterer Ausweitung 
auf die gesamte Wehrmacht. 

Unter Beibehaltung der bisherigen Aufgaben wurde 
ich dazu bestimmt und vom Reichsmarschall Hermann 
Göring in meiner Eigenschaft als Sanitätsoffizier des 
Heeres zur Waffen-SS versetzt. Nach Einsatz als Trup¬ 
penarzt auf fast allen Kriegsschauplätzen wurde ich 
1942 nach Berlin zurückbeordert und zusätzlich mit der 
Entwicklung neuartiger Verpflegungsmittel beauftragt. 

Ende 1942 stieß ich erstmals auf die ungeheuren 
Ernährungsmißstände in den KL und sah deren elende 
Opfer in Massen. Es stand für mich außer Zweifel, daß 
die Hungersnot bekämpft und die Hungerkranken 
überleben, ja wieder in guten Gesundheitszustand ge¬ 
bracht werden mußten. Den bereits mancherorts aus¬ 
gebrochenen Seuchen und der Hungerdystrophie, die 
man nicht beherrschte, stand man ratlos gegenüber. 
Vergessen war inzwischen, was man vom Hunger aus 
dem Ersten Weltkrieg noch hätte wissen können. Meine 
zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen über 
den Hunger waren offensichtlich nicht rechtzeitig an die 
bedürftigen Stellen gelangt. Ich habe dies bei der hun¬ 
gernden Kampftruppe i n Taganrog am Schwarzen Meer 
ebenso erlebt wie bei der von den Bombenangriffen 
heimgesuchten deutschen Zivilbevölkerung. 

Ende 1942 befahl Himmler — offenbar veranlaßt 
durch eine Radiomeldung der Feindseite - eine Inspek¬ 
tion des Zigeunerlagers in Auschwitz-Birkenau. Hier 
befanden sich vor allem die Kinder - man hatte sie bei 
den Familien belassen - in elendstem Zustand. Ihnen 
waren entsprechend ihrem Alter lediglich Anteile der 
Erwachsenrationen zugeteilt worden, statt kinderge¬ 
rechte Lebensmittel. Der vom Ernährungsinspekteur 
unterrichtete Ministerialdirektor Dr. Moritz vom Reichs¬ 
ministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMEuL) 
hatte von den Kindern im KL Auschwitz-Birkenau nichts 
gewußt, war entsetzt und erließ sofort die Verordnung, 
daß Kinder von Ostarbeitern, gleich, ob sie in Lagern 
gehalten würden oder nicht, die gleichen Lebensmittel¬ 
sätze erhielten wie die deutschen Kinder der entspre¬ 
chenden Altersstufen. (10 Jahre später stieß ich im so¬ 
wjetischen Gulag auf das gleiche Problem). 581 

Die zunächst in Angriff genommenen Bemühungen, 
Häftlingsrationen denen der Zivilbevölkerung gleichzu¬ 
stellen, scheiterten am Justizministerium, das für KL- 
Häfllinge Gefängnisrationen verfügte, und am RMEuL, 
das keine zusätzlichen Lebensmittel zur Verfügung hatte. 

So mußte man schrittweise an die Sache herangehen. 

Zunächst bekamen die Lagerärzte per Rundschrei¬ 
ben vom 12.5.1943 nähere Aufklärung über die weithin 
unbekannte Oedem- (Hunger) Krankheit und Anwei- 
sung zur Beh andlung mit hochwertigen Eiweißträgern. 
58) ausführlich in: E.G. Schenck, "Woina Plenni" I., Stockach 1986, S. 231 ff. 


Es wurde ihnen mitgeteilt, daß sie für kranke Häftlinge 
Krankheitszulagen wie für die Zivilbevölkerung erhal¬ 
ten können. Im September 1943 wurde Befehl erteilt, 
daß die Verpflegung der Häftlinge in den KL-Kranken- 
revieren nicht nur nicht verkürzt werden dürfe, sondern 
vielmehr aufzustocken sei. Schließlich erging im No¬ 
vember 1943 eine Verordnung des RMEuL, derzufolge 
sämtliche Häftlinge, also auch die nicht zur Arbeit 
eingesetzten, eine Schwer- resp. Schwerstarbeiterzula- 
ge erhielten. 

SS-Obergruppenführer Pohl, Chef des SS. Wirtschafts- 
Verwaltungshauptamtes, der, wie ich weiß, die Häftlin¬ 
ge nicht nur als Arbeitskräfte betrachtete, sondern als 
elende Menschen erkannte, richtete persönlich mehrfa¬ 
che Direktiven und sehr ausführliche Befehle an sämt¬ 
liche Lagerkommandanten und Verwaltungsführer (z.B. 
24.3. + 23.10.1943), die vom Ernährungsinspekteur aus¬ 
gearbeitet worden waren. Sie enthielten alle nur er¬ 
denklichen Maßnahmen zur Erleichterung des Lebens 
der Häftlinge. 591 Die Lagerverwaltungen wurden stän¬ 
dig unter Druck gehalten, sich zusätzliche, nicht ratio¬ 
nierte Gemüse, Wildgemüse, Zuckerrüben, Brauereihe¬ 
fe, Blut aus Schlachthäusern usw. kraft Eigeninitiative 
zu beschaffen. In 2 KL wurden Lehrküchen für die 
Köche aller KL eingerichtet, die erfahrene Truppenlehr¬ 
köche leiteten und ihr Fachwissen in Lehrkursen ver¬ 
mittelten. Ein großes Problem blieb die Beschaffüng der 
Kochkesselkapazität. Diese und andere Maßnahmen be¬ 
wirkten zwar insgesamt eine Erleichterung, doch ange¬ 
sichts der sich immer katastrophaler entwickelnden 
Kriegslage keine Wende. 

Da hochwertige Eiweißträger knapp und rationiert 
waren, mußte man an nicht rationierte Nahrungsmittel 
denken. Als solche boten sich die altbekannte Nährhefe 
und das Kriegsprodukt "Biosyn" aus Oidiumlactis (Edel¬ 
schimmelpilz im Käse) an. Leider konnten sie niemals in 
der projektierten Menge erzeugt werden, weil ihre 
Fabrikationsstätten immer wieder bei den gehäuften 
Bombenangriffen beschädigt wurden. Immerhin konn¬ 
ten bis Mitte 1944, als dann nach und nach alles ausfiel, 
600 - 700 Tonnen dieser Eiweißträger in die KL gebracht 
werden. 

So selbstverständlich und notwendiges war, sich der 
Hungernden in den KL anzunehmen, so selbstverständ¬ 
lich und notwendig war es auch, sich der unter den 
immer mörderischer werdenden Luftangriffen leiden¬ 
den deutschen Zivilbevölkerung und zurückgedrängten 
Truppen anzunehmen. So wandte ich mich nach Erledi¬ 
gung der letzten übergeordneten Dienstpflichten wieder 
dem unmittelbaren ärztlichen Beruf zu und operierte 
noch 10 Tage lang im Notlazarett der Reichskanzlei. 60 ’ 

59) Historische Tatsachen Nr. 49, S. 27/28. 

60) E.G. Schenck. "Ich sah Berlin sterben"", Herford 1970. - Unverändert in: 

"1945. Als Arzt in der Reichskanzlei", Stockach 1985. 

Von Prof. Dr. Dr. E.G. Schenck nach dem Krieg herausgegebene Bücher: 

1) ”1945 - Als Arzt in Hitlers Reichskanzlei", Stockach, 3. Aufl. 1986, 

194 Seiten 

2) "Woina Plenni — 10 Jahre Gefangenschaft in sowjetischen Lagern", 

Dachau 1985, 470 Seiten 

3) "Vom Massenelend der Frauen Europas", Bad Godesberg 1988, 199 

Seiten. 

4) "Patient Hitler — Eine medizinische Biographie", Düsseldorf 1989. 


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Himtarieche Totlachen Nr.,